Buchcover: Liebeskind
Mitte der 70er-Jahre begann im Norden Englands eine Mordserie, der bis Anfang der 80er-Jahre 13 Frauen zum Opfer fallen sollten. Der "Yorkshire-Ripper" terrorisierte die damals in den letzten Zügen liegende, ehemals blühende Industrielandschaft um Leeds mit unsagbar brutalen Morden an Prostituierten und Studentinnen, bis er Silvester 1980 endlich gefasst werden konnte. Allerdings ergaben sich bei den damaligen Ermittlungen Unstimmigkeiten, die bis heute nicht aufgeklärt sind. Diese bilden den Ausgangspunkt für eine der atemberaubendsten, verstörendsten und dunkelsten Arbeiten der "Hard Boiled"-Literatur, die das Genre seit den Romanen des US-Autors James Ellroy in den 80er-Jahren zu bieten hat.

Der 1967 in Yorkshire geborene und heute mit seiner Familie in Tokio als Englischlehrer lebende Autor David Peace hat sich in seiner international vielfach preisgekrönten Tetralogie "Red Riding Quartet", von der nun nach den ersten beiden Bänden 1974 und 1977 mit einigen Jahren Verspätung im Deutschen auch der dritte Band, 1980, vorliegt, dabei weniger mit den ewig gleichen Beschwörungen der pathologischen Innensicht eines Serientäters beschäftigt. Das Böse entpuppt sich am Ende bei Peace immer weitaus bedrückender und erschreckend banaler, als es reflexive Verarbeitung darstellen könnte.

Abgesehen von fiktiven Tonbandprotokollen, in denen sich Opfer- und Tätermonologe ineinander verschränken und, besonders bedrückend, religiöse Themenbereiche berühren, rückt Peace lieber die Ränder des Geschehens in den eigentlichen Mittelpunkt seiner für das Krimifach ungewohnt avantgardistisch gebauten Romane. Mit knapper Stakkatosprache, der Kunst der Aus- und Weglassung verpflichtet, schickt er seine Protagonisten (wahlweise Polizeiermittler oder Lokalreporter) durch persönliche Höllen aus Existenzangst, realer Bedrohung, Gewalt und Korruption. An deren Ende stehen nie und nimmer die etwaige Erlösung oder kathartische Momente. Der schnell und rauschhaft schreibende Desillusionist David Peace macht sich damalige, hektisch zusammengestoppelte Polizeiprotokolle vielmehr zu Eigen, um ausgehend von diesen seine Antihelden in Martyrien und durch Purgatorien zu schicken, an deren traurigem Ende immer die Desillusionierung stehen muss.

Die Kernfrage dieser Romane lautet: Was treibt Menschen, speziell auch in sterbenden, winterklirrenden, trauergrauen Landschaften, in denen in schwarzen, lichtlosen Häusern die Hölle in Form niederster menschlicher Triebe wie Rachsucht, Egoismus oder schlichter Rechthaberei losbricht, dazu, trotzig an das Gute zu glauben und dabei immer nur das Böse zu tun? Ein Ausschnitt aus 1980 zur Probe: "Die Vögel am Himmel kreischen (...) Es gießt in Strömen (...) Die Wolken über uns sind schwarz, die Hügel noch schwärzer (...) Hügel aus harten Häusern, trostlosen Zeiten (...) Lagerhäuser starren, Webereien glotzen (...) Ich schließe den Wagen auf (...) Der Motor läuft, ich laufe aus Angst (...) Der Norden nach der Bombe (...) Mord und Lügen, Lügen und Mord (...) Krieg."

Nach dem Lokalreporter Edward Dunford aus 1974 sowie seinem Kollegen Peter Whitehead und dem Polizeisergeant Robert Fraser aus 1977 schickt Peace dieses Mal Peter Hunter diese Rutsche hinunter in Bereiche, in denen man sich aufgrund ihrer Menschenfeindlichkeit nicht wohl fühlen kann und will. Hunter, Ermittler einer Sonderkommission für interne Angelegenheiten, von Kollegen das "heilige Arschloch" genannt, wird gemeinsam mit Kollegen aus Manchester kurz vor Weihnachten 1980 nach Leeds berufen, um dort etwaigen Verbindungen der lokalen Polizeistellen zum organisierten Verbrechen, speziell der illegalen Pornografie, nachzuspüren. Seine Ehe ist aufgrund mehrerer Fehlgeburten seiner Frau schwer belastet. Er selbst wird von Schlafstörungen und Panikattacken geplagt. Der Empfang seitens der Kollegen von der Polizei in Yorkshire ist mehr als frostig. Intrigen, Ränkespiele, Vertuschungen: In einem mahlenden "Stream of consciousness" erleben wir einen frustrierten, ja verbitterten Cop, dessen Leben in den nächsten drei Wochen endgültig aus der mühsam in bürgerlichen Konventionen gehaltenen Bahn driften wird.

Der im Autoradio zwischen den grau-grauen winterlichen Landschaften von Yorkshire in quälender Endlosschleife laufende Hitsong Andrew Golds aus dieser Zeit, die später von Carole King in der TV-Serie Golden Girls bekannt gemachte Edelschnulze Thank You For Being A Friend, liefert dazu den zynischen Soundtrack. Man wird nach der Lektüre dieses popkulturell enorm anspielungsreichen Romans den Song nie wieder hören können wie beim ersten Mal. Zumal der arme Sänger Andrew Gold auch noch dem schließlich bei einer Führerscheinkontrolle mehr oder weniger zufällig gefassten Yorkshire-Ripper mit Vollbart und Föhnfrisur zum Verwechseln ähnlich sieht.

Dass die Morde allerdings nach dem deprimierenden Ende von 1980 weitergehen sollten und möglicherweise ein Mann aus den eigenen Reihen als zweiter Täter in Betracht kommt, dürfte sich über den für nächstes Jahr in Aussicht gestellten Abschluss des "Red Riding Quartet" erschließen. Nach dem Ende dieser vierteiligen monumentalen Tetralogie, mit dem ein weiteres Trauma aus Yorkshire verhandelt wurde, der Bergarbeiterstreik aus den Jahren 1984/85 im Roman GB 1984, folgte ein halb fiktiver Roman über einen Fußballtrainer: The Damned Utd. Damit stieg David Peace jedenfalls in Großbritannien endgültig zum Bestsellerautor auf. Ein noch grimmigerer, eben fertiggestellter Auftakt zu einer Tokio-Trilogie soll mit Tokyo Year Zero jetzt folgen. Mit 1980 erleben wir David Peace allerdings bereits 2001 auf der Höhe seines Könnens. (Christian Schachinger/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 24./25.03.2007)