Die Bergkulisse peppt das Stadtbild von Andorra La Vella deutlich auf.

Foto: andorra.ad

"Der erhabene Karl der Große befreite mich von den Mauren", mit diesen Worten beginnt die Nationalhymne des kleinen Pyrenäenstaates, der seit 1993 souveränes Mitglied der UNO ist. Weiter heißt es in dieser Hymne: "Ich allein bin die einzige Tochter Karls des Großen." Prinzipat, Fürstentum, nennen die Andorraner ihren Staat. Und es sind gleich zwei Fürsten, die sich seit mehr als 700 Jahren die "Vormundschaft" über das aus sieben Pfarrgemeinden bestehende Land teilen, wenn auch heute nur noch nominell. Zurückgehend auf mittelalterliche Traditionen, sind das heute noch der Bischof des spanischen Urgel und der französische Staatspräsident als Nachfolger des Grafen von Foix und später des französischen Königs.

Verkehrsreichste Hauptstadt Europas

Wenn der Verkehr am stärksten ist, lassen die charmanten Verkehrspolizistinnen in Andorra La Vella in roten Blusen manchmal einfach beide Arme hängen. Dann sieht es aus, als resignierten sie angesichts des motorisierten Chaos, das sich Tag für Tag durch die engen Straßen der Stadt schiebt. Andorra la Vella, die Hauptstadt des kleinen Fürstentums Andorra hoch oben in der Bergwildnis der Pyrenäen, ist proportional zur Einwohnerzahl die verkehrsreichste Hauptstadt Europas.

Post wird kostenlos befördert

Mit einer Fläche von 464 Quadratkilometern ist die "einzige Tochter Karls des Großen" nur unwesentlich größer als Wien, hat rund 65.000 Einwohner, deren Muttersprache katalanisch ist. Diese Andorraner haben es gut, gibt es doch in dem kleinen Pyrenäenstaat weder Wehrpflicht noch direkte Steuern. Und innerhalb des Landes wird die Post kostenlos befördert. Auch auf eine eigene Währung hat man in Andorra verzichtet, der französische Franc und die spanische Peseta waren bis zur Euroeinführung gleichberechtigte Zahlungsmittel.

Am hochgelegen Markt

Die Steuerfreiheit macht sich bei vielen Waren natürlich bemerkbar, und so ist das gebirgige Andorra vor allem ein Ziel von Einkaufstouristen. Kistenweise schleppen die Besucher - sowohl in der Hauptstadt als auch im Grenzort Pas de la Casa, wo sich ein Supermarkt an den anderen reiht - die Zigaretten, Parfums, Spirituosen, so mancherlei Luxusgüter und elektronische Geräte in ihre Autos. Benzin und Diesel kosten nur halb so viel wie in Frankreich.

Wanderwege

Es wurmt die Andorraner, dass ihr kleines Land immer nur unter dem Blickpunkt des zollfreien Einkaufens besucht wird. Man will weg von diesem Klischee, will das Land mehr und mehr als unberührtes Hochgebirgsland vorstellen. So sind in den letzten Jahren viele Wanderwege angelegt worden, wurden leer stehende Hirtenhütten zu Unterkünften für Bergwanderer umfunktioniert.

Unberührt erscheinende Hochgebirgswelt

Doch oft genug sei bei diesen Hütten die bisherige Verwendung als Viehstall noch allzu deutlich zu sehen und zu riechen, klagt uns Jean-Claude, ein Student aus Genf, dem wir hoch über dem nördlichen Valiratal in den Bergen nahe der Grenze zu Frankreich begegnen. Zusammen mit seiner Freundin ist er seit zwei Wochen in den Bergen Andorras unterwegs. Nicht allein ziehen die beiden durch die Pyrenäen Andorras, sie haben Mulis dabei, die ihnen Zelt, Schlafsäcke, Proviant - kurz, alles, was nötig ist - tragen. Wer, wie die jungen Schweizer, in die Berge Andorras hineinwandert, kommt angesichts einer auf weite Strecken unberührt erscheinenden Hochgebirgswelt aus dem Schwärmen nicht heraus.

Zwei Weitwanderwege gibt es inzwischen, die das kleine Land durchziehen. Sie folgen jenen Maultierwegen, über die bis 1913 der gesamte Verkehr zwischen der Außenwelt und dem kleinen Prinzipat, dem Fürstentum in der Gebirgswildnis, abgewickelt wurde. Erst damals wurde die Straßenverbindung nach Spanien geschaffen, an Frankreich wurde Andorra, das bis heute keine Eisenbahn und keinen Flugverkehr kennt, 1931 straßenmäßig angeschlossen.

Seltene Bergroman(t)ik

Die kleinen gemauerten Bogenbrücken über die reißenden Wildbäche Andorras, die wir im Verlauf der einstigen Maultierwege hier und da noch sehen können, sind ebenso architektonische Wahrzeichen des Landes wie die uralten romanischen Kirchen, die als weltweit selten dastehende Beispiele der Bergromanik gelten. Die Cortals sind kleine Gruppen von Scheunen und Ställen in den Bergen, die heute vermehrt zu einladenden Berggasthäusern umgebaut werden. Wir hungrigen Besucher bekommen hier deftige Spezialitäten vorgesetzt. Besonders beliebt ist ein Eintopf aus Bohnen und Kartoffeln mit Speck, Schinken und Würsten.

Ordino ist autofrei

Als Überraschung entpuppt sich das kleine Dorf Ordino im Tal der nördlichen Valira. Hier ist nichts mehr zu sehen und zu spüren von der Hektik der Supermärkte oder Apartmentblocks. Das Auto muss draußen bleiben vor dem Ort - Ordino ist autofrei. So kann man in Muße durch die oft kaum mehr als einen Meter breiten Gassen bummeln und die Atmosphäre eines kleinen Marktfleckens genießen.

Abgesehen von den Supermärkten, wo das Personal sich mit den Käufern in einem Kauderwelsch aus drei oder vier Sprachen gleichzeitig unterhält, darf man in Andorra nicht allzu viel sprachliche Gewandheit erwarten. Selbst in guten Cafés oder Restaurants der Hauptstadt kann es vorkommen, dass die Kellner nur Katalanisch und nur bruchstückhaft Englisch oder Französisch sprechen. Doch wäre es anders, wäre das Plaudern mit der einzigen Tochter Karls des Großen sicher nicht mehr so charmant. (Christoph Wendt/DER STANDARD, Printausgabe, 31.3./1.4.2007)