Das Rätsel der vor sieben Jahren entdeckten mexikanischen Kristallhöhle ist gelöst: Sie wurde von einem sterbenden unterirdischen Vulkan "geboren".

Foto: Javier Trueba / Madrid Scientific Films

Chihuahua – Eine Schatzkammer von vergleichbarer Pracht ist nicht bekannt. Vor sieben Jahren entdeckten Bergarbeiter in einer Höhle in Mexiko dutzende Gipskristalle, so groß wie Baumstämme. Das war eine Sensation. Doch wie die bis zu 50 Tonnen schweren Kristalle entstanden sind, blieb ein Rätsel. Jetzt können Wissenschafter das Rezept für die Riesenkristalle entschlüsseln, und sie hoffen auf weitere Grotten voller bislang unentdeckter Naturschönheit.

Die Höhle unter der Wüste von Chihuahua in Mexiko gleicht einer Hexenküche: Saunatemperaturen, Schwefelgeruch und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit würden jeden Menschen umgehend aus der Mine von Naica, knapp 300 Meter unter der Erde, vertreiben – wären da nicht jene milchig-transparenten Säulen aus Selenit, einer transparenten Form von Gips. Ihr Anblick entschädigt für die Strapazen.

Selbst wer die Vorschriften einhalte, also genügend trinke und höchstens zehn Minuten bleibe, steige schweißnass und müde aus der Grotte, berichtet der Kristallograf Juan Manuel Garcia-Ruiz von der spanischen Universität Granada. Er nehme die Tortur immer wieder auf sich, weil der Anblick der symmetrischen Riesenkristalle überwältigend sei: Auf der Fläche von der Größe eines Handballfeldes ragen gigantische Säulen aus dem Boden, der Decke und den Wänden.

Bergbau hat die unterirdische Wunderwelt zugänglich gemacht. Um an das im Fels liegende Silber, Zink und Blei zu gelangen, drangen Erz-Unternehmen hunderte Meter tief in die Erde vor. Pumpen saugten pro Minute zehntausende Liter Grundwasser ab. Schließlich gab das Wasser auch die Kristallgrotte frei. Sieben Jahre rätselten García-Ruiz und Kollegen, wie das Naturwunder entstanden ist. In der Fachzeitschrift Geology präsentieren sie nun ihre Erklärung (Band 35, Seite 327).

Ein sterbender unterirdischer Vulkan hat demnach die natürliche Kristallwelt geboren. Sie entstand vor 26 Millionen Jahren, als Magma aufstieg und die Kalkfelsen der Chihuahua-Wüste nach oben presste. Dabei brach das Gestein. Das Magma blieb in drei Kilometer Tiefe stecken. Dennoch erhitzte es Grundwasser, das in die Gesteinsrisse floss. Das Wasser lagerte wertvolle Metalle ab. Örtlich löste es den Kalkstein auf. In den Hohlräumen wuchsen Kristalle. Zunächst gediehen kleine Anhydrit-Kristalle, die aus den gleichen Substanzen wie Gips bestehen – nur dass sie im Gegensatz zu Gips kein Wasser enthalten.

Allmählich kühlte der Boden ab. Und nun geschah etwas äußerst Sonderbares. In einer Höhle der Naica-Mine, an einer Erdbebennaht 290 Meter unter der Erde, schien die Zeit stehen zu bleiben. Über Jahrtausende, möglicherweise über Jahrmillionen, herrschten die gleichen Bedingungen: Wie im Kolben eines sorgsam präparierten Reagenzglases plätscherte in der Grotte 54 Grad heißes Grundwasser.

Das Wasser löste die Anhydrit-Kristalle auf, die meist zerfallen, sofern die Temperatur unter 58 Grad sinkt. Aus ihren Bestandteilen – vorwiegend Schwefel, Sauerstoff und Kalzium – wuchsen allmählich Gipskristalle heran. Ein chemischer Fingerabdruck beweist, dass die Zutaten der Gipssäulen aus den Anhydriten stammen: Schwefel- und Sauerstoffmoleküle kommen in unterschiedlichen Gewichtsklassen vor. Weil sich Gips und Anhydrit bei verschiedenen Temperaturen bilden, kann nur das eine aus dem anderen hervorgegangen sein.

Die Gipskristalle konnten immer größer werden, weil das Grundwasser nicht unter 54 Grad abkühlte und die Zufuhr an Schwefel und Kalzium sich nicht erschöpfte. Wie Laborversuche ergaben, stand dabei exakt die richtige Menge an Nachschub zur Verfügung: Hätte sich mehr Schwefel und Kalzium aus den Anhydriten gelöst, wären statt der Riesenbrocken tausende Minikristalle entstanden.

Die Rezeptur blieb erstaunlicherweise die ganze Zeit erhalten: Wäre das Grundwasser nur ein paar Grad abgekühlt, hätten die Säulen ihr Wachstum abrupt eingestellt. Ein Anstieg der Temperatur hingegen – und der Gips wäre zerfallen; stattdessen wäre wieder Anhydrit entstanden. Noch heute herrschten ideale Bedingungen, sagt García-Ruiz: Sobald die Pumpen des Bergwerks abgestellt würden und das Grundwasser wieder stiege, würden die Gipsstämme weiter wachsen, erklärt García-Ruiz. Für die Erhaltung des Naturwunders wäre das womöglich die beste Lösung – auch wenn es dann niemand mehr bewundern könnte: Denn ohne das Grundwasser drohen die Kristallgiganten abzubrechen, sie müssen bereits von Balken gestützt werden.

Die Suche nach weiteren Kristallgrotten in der Naica-Mine könnte sich lohnen, meint García-Ruiz. Weil es im Untergrund der Chihuahua-Wüste viele Höhlen gibt, die von heißem Grundwasser geflutet waren, erwartet der Experte dort weitere kristalline Schatzkammern.

Kann man nun, da das Rezept bekannt ist, im Labor ähnliche Riesenkristalle züchten? "Ja", sagt García-Ruiz, "es würde nur sehr lange dauern". Erste Versuche lassen vermuten, dass das Projekt Jahrtausende in Anspruch nehmen würde: Der längste Gipskristall in seinem Labor misst gerade einmal ein paar Zentimeter. (Axel Bojanowski/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14./15. 4. 2007)