Wien - Von der Bedeutung der Emotionen beim Lernen bis hin zum Erkennen von Lese-Rechtschreibschwächen - die Neurowissenschaft kann neue Grundlagen schaffen, wie effizienter gelernt und gelehrt werden könnte. Und sie will dazu beitragen, dass der Schulunterricht wieder interessanter wird, sagt der deutsche Neurobiologe Manfred Spitzer im Gespräch mit der APA. Doch den "Super-Lerntrick" darf man sich von der Hirnforschung nicht erwarten, schränkte der Bestsellerautor ein, der morgen, Freitag, an einem vom Pädagogischen Institut der Stadt Wien veranstalteten Symposium einen Vortrag halten wird.

Wie das Lernen funktioniert

Die Neurowissenschaft will zeigen, wie das Lernen funktioniert und Wissen verwendet wird: "Es ist wie mit dem Hausbau: Man braucht die Grundlagen der Physik, um ein Haus zu bauen. Nur mit der Physik allein geht es aber nicht", so der Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm: "Man muss die Pädagogik oder Didaktik deswegen nicht neu erfinden. Die Neurowissenschaft bringt ein zusätzliches Verständnis."

Im Jahr 2004 gründete der Mediziner und Psychiater das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) an der Universität Ulm. Es betreibt Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Kognitionswissenschaften mit Schwerpunkt Lernforschung. Hier laufen rund 50 Projekte zum Lernen in Kooperation mit über 100 Kindergärten und Schulen.

Trainingsmaßnahmen einleiten

Die Forschung konnte beispielsweise mittels EEG-Messung nachweisen, "dass die Lese-Rechtschreibschwäche bei einem Fünfjährigen mit der akustisch-phonematischen Sprachwahrnehmung zusammenhängt". So könne z.B. bereits bei einem Vierjährigen diese Neigung festgestellt und mit entsprechenden Trainingsmaßnahmen die Lese-Rechtschreibschwäche behandelt werden, so dass er als Schüler nicht mehr darunter leidet.

"Die Neurowissenschaft hat bewiesen, dass emotionale Prozesse fürs Lernen wichtig sind", ist für Spitzer ein weiterer zentraler Beitrag der Hirnforschung zum Lernen. Freude fördert das Lernen, Angst schließt Kreativität aus. Es sei nachgewiesen, dass der Lernstoff mit den beim Lernen empfundenen Gefühlen gemeinsam abgespeichert würde - und beides beim erneuten Abrufen wieder auftritt. "Es gibt Leute, die beim Anblick einer mathematischen Formel in eine intellektuelle Totenstarre verfallen, die Angst ist mit den Formeln verknüpft. Damals ist im Schulunterricht etwas schief gelaufen."

Gehirn lernt immer

Kritikern, die auf das bereits länger bestehende Wissen um die Bedeutung der emotionalen Rahmenbedingungen fürs Lernen verweisen, entgegnet Spitzer: "Warum wurde dann noch nichts dagegen unternommen?" Die Neurowissenschaft schaffe eine rationale empirische Grundlage für die Art, wie unterrichtet werden sollte.

"Die Schüler langweilen sich vormittags in der Schule", beschreibt Spitzer das Ergebnis einer weiteren Studie, in der die emotionalen Prozesse von Kindern und Jugendlichen über den Tag verteilt untersucht wurden. Die emotionale Beanspruchung sei vor allem nachmittags gegeben. "Das Gehirn lernt immer. Der Input erfolgt also vor allem über die nachmittäglichen Aktivitäten vor den Bildschirmmedien." Denn dort verbrächten die Schüler fünfeinhalb Stunden pro Tag - gegenüber nur vier Stunden (Anm. auf eine Woche hochgerechnet) in der Schule. "Vor den Fernsehern, PCs und Handys findet die emotionale Achterbahnfahrt statt, das Wissen aus der Schule wird gelöscht." Der einfache Appell des Fernseh-Skeptikers: Der Unterricht gehöre wieder interessanter gestaltet.

Lernalltag

Der Beitrag der Neurowissenschaften zur Verbesserung der Lern- und Lehrprozesse in den Schulen wird von Praktikern und Bildungsforschern sehr oft als zu wenig konkret und praxisorientiert kritisiert. Spitzer stellt dem die Arbeit am ZNL gegenüber: "Genau daran arbeiten wir." In Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen soll an dem Transferzentrum u.a. überprüft werden, inwiefern sich die Ergebnisse auf den Lernalltag und in die Praxis übertragen lassen.

Den "Super-Lerntrick" darf man sich bei alledem allerdings nicht von den Erkenntnissen der Hirnforschung über das Lernen erhoffen. "Denn den gibt es genauso wenig wie ein 'hirngerechtes' Lernen", so Spitzer.

Bei dem Symposium in Wien zum Thema "Im Brainpunkt - Hirnforschung und Lernen" wird Spitzer auch gemeinsam mit der Bildungspsychologin Christiane Spiel, dem Direktor der Pädagogische Akademie der Diözese Linz, Hans Schachl und dem Genetiker Markus Hengstschläger über die Bedeutung der Ergebnisse der Hirnforschung für Schulen und Fortbildung diskutieren. (APA)