Der schier endlose Sandstrand in Liepaja wird nur mäßig beworben. Die meisten kommen, um einen Tag hinter Gittern zu verbringen.

Foto: Lettland Tourismus
Fünf Euro kostet die Schikane, Handschellen, eine peinliche ärztliche Befragung, bellende Unteroffiziere und ein hämischer Hauptmann mit Schnauzbart inklusive. Schwarz gestrichen sind die Zellenwände, scheppernd schließt die Tür. Dicke Backsteinmauern, Suchscheinwerfer und ein Stacheldraht lassen an Flucht kaum denken. Wer jetzt drin ist, wird 120 Minuten lang eingesperrt bleiben. So lange dauert die "Einfühlung in die Rolle eines Häftlings", die der Prospekt der "Hinter Gittern"-Show verspricht. Aufgeführt wird sie im ehemaligen Militärgefängnis von Karosta an der lettischen Ostseeküste, einem Stadtteil von Liepaja.

Ein maroder Hinterhof der schmucken baltischen Kurstadt ist Karosta auf den ersten Blick, "Kriegshafen" heißt die im Schachbrettmuster angeordnete Siedlung übersetzt, leer stehende Plattenbauten und Garagenblocks, holprige Asphaltpisten, von Unkraut überwucherte Häuserskelette und die Zwiebeltürme der orthodoxen Sankt- Nikolaus-Kathedrale prägen das Bild.

Erst der zweite, dritte Blick offenbart den Charme des staubigen Ortes. "Ich habe mich vor vier Jahren in Karosta verliebt", bekennt Martins Kesteris. Damals war er 16 Jahre alt - da verknallt man sich schnell. "Die Liebe hat gehalten", sagt der fließend Russisch und Englisch sprechende Mann heute, der Tourismus-Management studiert und im Fremdenverkehrsamt jobbt. Nicht allen in Liepaja, zu Deutsch Libau, ist Kesteris\ Begeisterung geheuer.

Die mit gut 88.000 Einwohnern größte Stadt Kurlands, der heute Kurzeme genannten Provinz im Südwesten Lettlands, könnte mit anderem werben - es gibt einen 50 Hektar großen Strandpark und einen blendend weißen Sandstrand, es gibt Erinnerungen an die Zeit der Deutschen, an das Kurhaus und an die exklusiven Cafés, es gibt Kirchtürme und Jugendstilvillen, Wälder und Seen, idyllische Städtchen und Gutshöfe. Und acht Kilometer nördlich vom Stadtzentrum, durch zwei Hafenkanäle getrennt, liegt Karosta, von dem sogar Martins Kesteris sagt: "Man muss die Geschichte erklären, sonst sieht es hier einfach nur gefährlich und hässlich aus."

Von Zar Alexander II. 1890 gegründet, war Karosta einst einer der größten russischen Militärstützpunkte im gesamten Baltikum und die erste U-Boot-Basis der Baltischen Flotte. Petersburger Stadtpaläste waren das Vorbild für die prächtige Offiziersmesse, unter dem Glasdach der Manege fanden Reiterspiele und Festessen statt. Insgesamt 25.000 Menschen lebten damals hier, wegen der Parks, der Nähe zur See und des duftenden Kiefernwaldes galt Karosta als bevorzugtes Wohnviertel. Im Kalten Krieg schätzten die Sowjets Karostas Bedeutung als so brisant ein, dass sie es zum Sperrgebiet erklärten. Dann brach das Imperium zusammen, bald verließ auch das lettische Militär Karosta. 1997 wurde auch das Gefängnis aufgegeben, Karosta hatte noch ganze 6000 Einwohner.

Herzeigbarer Hafen

"Die Stadt hat große Fehler gemacht", kritisiert Kesteris. "Und sie macht immer noch Fehler." Statt auf Tourismus und Kultur setze der Magistrat zu stark auf Industrie. "Wir bauen neue Öl- Terminals und Fabriken, die schönen alten Häuser aber verfallen." Immerhin habe nun Oberbürgermeister Uldis Sesks damit begonnen, den alten Hafen seinen Gästen, Ministern und Botschaftern zu zeigen.

Etwa zur selben Zeit wie dieser entdeckte auch der "Rettungsverein des Kriegshafens" Karosta - und vor allem das alte Militärgefängnis. Nachdem es dort schon im Herbst 2002 eine erste "Hinter Gittern"- Show gegeben hatte, baute der Verein, der nach den Anfangsbuchstaben seines lettischen Namens "Karostas glabsanas biedriba" mit dem griffigen Kürzel KGB für sich wirbt, das Angebot aus.

Ein kleines Museum des Schreckens ist seitdem aus dem hinter einem hohen Zaun drohenden Gebäude geworden, 18.000 Besucher weist die Statistik für 2005 aus. Heute vermietet der KGB das Gefängnis auch für Polterabende, ein Dutzend Zellen sind für freiwillige Übernachtungsgäste renoviert worden.

Warmes Wasser ist Privatsache in Karosta, entweder man schraubt sich einen Boiler an die Wand oder nicht. Im einstigen Gefängnis hängt einer. Wer über Nacht bleibt, kann sich morgens ohne Bibbern waschen. Und auf die Holzplanken legt der KGB mittlerweile sogar Matratzen. (Sebastian Balzter/Der Standard/Printausgabe/5./6.5.2007)