Wird die EU-Grundrechtscharta das erste Kapitel einer europäischen Ver-fassung oder eine weitere verzichtbare politische Erklärung? Stefan Barriga hofft, keines von beiden. Die Wahrung der Grundrechte sei ein Gründungsprinzip der Europäischen Union, wurde beim Kölner Gipfel im Juni des Vorjahres festgestellt, und daher sei es an der Zeit, eine Charta dieser Rechte zu erstellen, "um die überragende Bedeutung der Grundrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar zu verankern." Ein eigens geschaffener Konvent aus nationalen und Europaparlamentariern sowie Regierungsvertretern bemüht sich seither, einen Entwurf zu erstellen. Hinterher soll geprüft werden, ob und wie der Text in die Gründungsverträge aufgenommen werden kann. So weit, so unspektakulär. Es kann doch kein Problem sein, angesichts der zahlreichen Menschenrechtsverträge, denen die EU-Staaten verpflichtet sind, eine "sichtbare" Zusammenfassung zu erstellen? Doch der Teufel steckt im Detail: Die Charta soll nämlich nicht die einzelnen Staaten binden, sondern - in erster Linie - die Organe und Einrichtungen der Union. Euroskeptiker dagegen Und Letztere, als internationale Organisation, ist mitnichten Unterzeichnerin einschlägiger Verträge, auch nicht der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Macht doch nichts, angesichts der etwa gleich hohen menschenrechtlichen Standards ihrer Staaten kann sich die EU doch leichtens verpflichten, diese Rechte zu achten? Und wer oder was könnte schon gegen eine Stärkung der Grundrechte der Menschen gegenüber "Brüssel" sprechen? Die Antwort mag überraschen: ausgerechnet die Euroskeptiker. Besonders britische Medien schäumen bei der Vorstellung, dass die ohnehin schon allzuständige EU jetzt auch noch für den Grundrechtsschutz verantwortlich sein könnte. Britische Anwälte warnen vor dem Chaos, das durch solch eine Charta drohe, schon aufgrund der unauflöslichen Konkurrenz zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Menschenrechtsgerichtshof. Man möge sich doch mit einer unverbindlichen politischen Erklärung begnügen. Dass die Charta schon im Entwicklungsstadium für nationale Abwehrreflexe gegen Europa missbraucht wird, ist bedauerlich und stellt den Erfolg des Projekts infrage. Nicht besonders hilfreich ist jedoch auch das andere Extrem: Jener laut geäußerte Gedanke etwa, die Charta wäre der erste Schritt hin zu einer europäischen Verfassung, eine "Magna Charta" der Völker Europas. Zum jetzigen Zeitpunkt sollte es nämlich weder um die Verhinderung neuer Gemeinschaftskompetenzen gehen, noch um die Verwirklichung europäischer Bundesstaatsfantasien. Gefragt ist ein rechtsverbindlicher Text, der dem schwächelnden Grundrechtsschutz in der EU wieder auf die Beine hilft. Ja, richtig gelesen: schwächelnd. Die Menschenrechte in der EU leiden nämlich an einem Paradoxon: je mehr Integration, desto weniger Grundrechtsschutz. Auf nationaler Ebene sind die 15 allesamt Vertragsstaaten der EMRK. Ihre Gesetze, Verordnungen und sonstigen Akte sind der unbequemen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg unterworfen, an den sich jedermann Hilfe suchend wenden kann. EU kein Mitglied Anders hingegen die Ebene der Europäischen Union: Hier verneinte Straßburg bislang seine Zuständigkeit, da die Union der EMRK nicht beigetreten ist. Ein diesbezüglicher österreichisch-italienischer Vorstoß im Jahr 1996 scheiterte vor allem am Widerstand der Briten. Die Folge: Mit jeder Gesetzgebungskompetenz, die von den Staaten auf die Gemeinschaft übergeht, verringert sich die Kontrollbefugnis des Straßburger Gerichtshofs. Rein quantitativ betrachtet ließe sich sogar behaupten, dass etwa Albanien oder die Türkei, die praktisch zu 100 Prozent der Straßburger Rechtsprechung unterliegen, im Bereich der EMRK einen breiteren Grundrechtsschutz aufweisen als jeder einzelne der EU-Staaten. Und der EuGH in Luxemburg hat bislang nur äußerst selten Gemeinschaftsrechtsakte wegen Menschenrechtswidrigkeit aufgehoben. Eine rechtsverbindliche Grundrechtscharta, ausgestattet mit entsprechenden Beschwerdemöglichkeiten, wäre vielleicht in der Lage, diese Lücke zu schließen. Darüber hinaus könnten bestehende Defizite der immerhin schon 50 Jahre alten Europäischen Menschenrechtskonvention beseitigt werden. Doch der Ausgang des zähen Brüsseler Ringens ist - wenige Wochen vor dem geplanten Ende der Arbeiten im September - noch immer völlig ungewiss, euroskeptische Positionen bedrohen den Konsens. Da bleibt nur zu hoffen, dass der Konvent sich der Wurzel seines Namens besinnt und am Ende wirklich "zusammen-kommt" und einen Entwurf vorlegt. Im viel zitierten Satz von der "europäischen Wertegemeinschaft" klänge dann noch immer gleich viel Pathos, zugleich aber auch ein bisschen mehr Realität. Stefan Barriga ist Referent für Menschenrechtsangelegenheiten im Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.8. 2000)