Spiel oder Wirklichkeit, auf jeden Fall die Zukunft: Eine Animation der Studios von Electronic Arts

Grafik: Electronic Arts
Die wichtigen Entscheidungen werden in Los Angeles seit jeher nicht in den noblen Konferenzräumen über den Dächern der Stadt getroffen, sondern in unscheinbaren und dunklen Zimmern: Jedes Filmstudio besitzt einen kleinen Vorführraum mit 20 bis 50 Plätzen, in denen die Filme den Studiobossen und Investoren vorgeführt werden. In diesen Mini-Kinos bekamen Movie-Mogule wie Jack Warner ihre legendären Tobsuchtsanfälle, hatten brillante Geistesblitze, befahlen Neudrehs und den Umschnitt. Auch in dem Gebäude am 5510 Lincoln Boulevard gibt es im Erdgeschoß ein kleines Kino. Nur dass hier keine Komödien und Actionfilme ihre Premiere erleben, sondern Autos über den Bildschirm rasen und Fußballer und Soldaten um jeden Zentimeter kämpfen. Nebenan spielen ein paar Programmierer und Computerfreaks in ihrer Mittagspause ein bisschen Billard. Willkommen bei Electronic Arts (EA) , dem Videospiel-Weltmarktführer; in seinem brandneuen Produktionsstudio im Herzen von Los Angeles. Schon die Standortwahl wirkt wie eine Ansage an die Filmindustrie: Wir sind jetzt die Traumfabrik!

Konsole

Im März begann in Europa ein neues Zeitalter in der Unterhaltungsbranche. Mit der Playstation 3 von Sony ist nun auch die dritte Next-Generation-Konsole auf dem Markt. Und wie die Mitbewerber Microsoft und Nintendo bietet Sony den Fans von interaktiver Unterhaltung eine nie gesehene Technik-Power: mehr Bits, mehr Bytes, mehr Hertz. "Aber es geht nicht nur um Zahlen", meint Neil Young, General Manager der EA-LA-Studios, "wir beginnen gerade erst das Potenzial des Mediums auszuschöpfen."

Test

1984 erschien in einigen Fachmagazinen eine doppelseitige Anzeige. "Can a Videogame Make You Cry?", fragte EA seine Kunden und Kollegen, kann es den Spieler berühren, verändern, kann es also mehr sein als ein bunter Reaktionstest, vielleicht, sogar, ein Kunstwerk? Neil Young beantwortet diese Frage auch im Jahr 2007 mit einem gequälten "noch nicht". EA aber ist in den vergangenen 23 Jahren zum Marktführer geworden. Mit einem Umsatz von knapp drei Milliarden Dollar nimmt der Konzern fast 30 Prozent des boomenden Videospiel-Markts ein. Sechs der zehn beliebtesten Spiele in Deutschland werden von EA vertrieben. Und natürlich ist Los Angeles der richtige Ort, um an der Zukunft des Entertainments zu arbeiten. Hier haben die Warner Brothers, Paramount und Universal die Mythen der Moderne produziert, haben die Menschen berührt, verändert und zum Weinen gebracht. Hier funkeln die Sterne auf dem Boulevard.

Aufgaben

Videospiele entstehen nicht allein im Computer - oft benötigt man auch Kostümbildner, Visagisten und Filmstudios. Gerade hat man bei EA-LA zwei Projekte "abgedreht", das Kriegsspiel "Medal of Honor: Vanguard", in dem der Spieler die Rolle eines GIs bei der Invasion von Europa übernimmt. Und das Strategiespiel "Command and Conquer". Für CoC standen 20 Schauspieler vor der Kamera. Richard Taylor, bei EA verantwortlich für reale Drehs, so genannte "Live-Action", hat in den Studios von Culver City und einige Tage auf Hawaii gedreht. "Wir verwenden die gleichen Techniken wie Hollywood", sagt der Branchen-Veteran. Bei der Motion-Capturing-Technik kleben die Videospiel-Produzenten Schauspielern weiße Punkte auf den Körper und Gelenke; die kämpfen dann mit Schwertern, spielen Golf, führen eine Blutgrätsche durch. Die Bewegung der Punkte dient dann als Grundlage für die Computeranimation. Umgekehrt werden bei Filmproduktionen wie "Star Wars", "King Kong" oder "Spiderman" Kulissenbau und Statisten mehr und mehr durch Software ersetzt, die in der Videospielbranche vertraut ist. Digital animierte Figuren - so genannte "Synthespians" - übernehmen immer öfter Haupt- und Nebenrollen.

Effektreich

Richard Taylor hat bereits für den Disney-Konzern und Jerry Garcia und The Grateful Dead die Spezialeffekte koordiniert. Vor zwei Jahren heuerte er in der Videospielbranche an, weil "das die Zukunft ist". Man kann alles machen, erzählt er begeistert, es gibt keine Einschränkung bei Licht oder Kameraführung. Taylor wirkt wie ein Kind, das nach 30 Jahren Hollywood das perfekte Spielzeug gefunden hat. "Der Computer ist das stärkste kraftvollste visuelle Werkzeug."

Vermarktung

"Früher waren Videospiele nur eine weitere Form der Vermarktung von einem Film", sagt Neil Young, "wir wollen, dass sie zur Wurzel des Unterhaltungsgeschäfts werden." Die Branche ist auf einem guten Weg: Die neuen Ikonen kommen aus der digitalen Welt. Pac-Man, Pokémon und Solid Snake. Im Jahr 1990 fand eine amerikanische Studie heraus, dass Mario, der italienische Installateur aus dem Nintendo-Universum, Mickey Mouse und die Disney-Menagerie an Popularität überholt hat. Eine Spin-off-Industrie versorgt Videospiel-Fans mit Comics, Postern, Klamotten und Plastikspielzeug. Die beeindruckendste Cyber-Karriere aber hat natürlich Lara Croft gemacht - und landete auf dem Cover des englischen Magazins The Face als Nachfolgerin von Madonna, Kylie und Britney - der erste virtuelle Popstar.

Ähnlichkeiten

Hollywood-High-Concept-Filme und Videospiele sind sich so ähnlich geworden, dass ein flüchtiger Blick auf den Fernsehbildschirm nicht mehr genügt um festzustellen, ob da gerade eine Szene aus "Harry Potter" im DVD-Player abgespielt wird oder ob es sich um eine Sequenz aus dem gleichnamigen Videospiel handelt. Die Playstation 3 spielt beide Medienformate ab. Peter Jackson, der Herr der "Herr der Ringe", demonstrierte kürzlich, wie nah sich Leinwand und Joystick gekommen sind, indem er parallel zum "King Kong"-Remake auch das gleichnamige Videospiel produzierte. Für die Harry-Potter-Spiele arbeitet EA eng mit Warner Brothers zusammen. So bekamen die virtuellen Regisseure die Blaupausen der Film-Modelle und die Kostüme zur Verfügung gestellt - und auch die Schauspieler um Daniel Radcliffe schauten im Videospiel-Studio vorbei, um sich einscannen zu lassen.

Kostümen

Die Büros in den EA-Studios sehen aus wie ein Filmset, sind dekoriert mit Kostümen, lebensgroßen Wachsfiguren, Fotos und Plakaten. "Die Programmierer und Designer müssen in das Universum eintauchen", meint Neil Young - in einem guten Videospiel werden die Bilder eben nicht nur zum Laufen gebracht. Man kann sie auch anfassen. Seit Kurzem arbeitet EA auch mit Regie-Genie Steven Spielberg zusammen. Zwei Mal in der Woche schaut Spielberg am Lincoln Boulevard vorbei, um mit Young über die Zukunft der Unterhaltung zu sprechen. Informationen über das Projekt gibt es kaum. "Spielberg ist groß darin", sagt Neil Young, "dass er ein breites Phänomen durch die Augen von einigen Individuen erlebbar und nachfühlbar macht." Oder anders: Spielberg ist vielleicht kein Arthouse-Regisseur. Aber er weiß, wie man die Leute zum Weinen bringt. (Tobias Moorstedt / DER STANDARD Rondo, 11.05.2007)