Mein Kommentar zum Thema Gesamtschule ("Totgeglaubte leben länger" , STANDARD, 2. 5.) hat offenkundig die Gemüter ihrer programmatischen Befürworter erregt. Dabei geht es nach meiner Auffassung um einen Zielkonflikt zwischen Solidarität und Qualität:

Die Befürworter sind der Meinung, dass mit der Gesamtschule (in all ihren Varianten) beides verbessert und sogar die Vielfalt erhöht werden kann (so etwa Gesamtschul-„Doyen“ Rupert Vierlinger in seiner Erwiderung in der Wochenend-Ausgabe des Standard). Wenn dies der Fall wäre, gäbe es in der Tat keinen vernünftigen Grund, gegen einen derartigen Systemwechsel einzutreten.

Im Unterschied zu meinen Kontrahenten befürchte ich indes, dass die Einführung der Gesamtschule, auch in ihrer abgespeckten Version, weder die soziale Gerechtigkeit, geschweige denn die Qualität der Allgemeinbildung steigern wird.

1. Den immer wieder gerühmten skandinavischen Vorbildern stehen – ich bleibe dabei – negative Erfahrungen in Deutschland oder dem Vereinigten Königreich entgegen. Die Gesamtschule ist per se weder gut noch schlecht. Sie ist ein Instrument.

2. Zutiefst argwöhnisch stehe ich dem magisch-technokratischen Reformglauben an die perfekte Institution gegenüber: Denn mit der angestrebten Zerstörung des dreigliedrigen Schulsystems ändert sich nicht automatisch auch das Personal. Um Schwächere aber auch für besonders Begabte zu fördern, müsste man erheblich mehr Geld für mehr und besser ausgebildetes Lehrpersonal ausgeben. All die Entwicklungen der letzten Jahre weisen tendenziell in eine andere Richtung; und die Versicherung, dass die zukünftigen Gesamtschul-Lehrer vorwiegend an den (ehemaligen) Pädagogischen Akademien ausgebildet werden sollen (Vierlinger), empfinde ich als eine existenzielle Bedrohung für die Allgemeinbildung.

3. Das immer wieder gebetsmühlenhaft vorgetragene Argument, dass zehnjährige Menschen sich noch nicht entscheiden können, welchen Bildungsweg sie einschlagen sollen, halte ich für fadenscheinig. Ob es einem gefällt oder nicht: der Einfluss der Eltern wird dabei bestimmend bleiben; ob die jungen Menschen nun 10 oder 13 sind, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die Befürworter sollten jedenfalls aufhören so zu tun, als ob die pädagogische und fachliche Verbesserung des Unterrichts oder die effiziente Förderung benachteiligter Kinder nur mit dem administrativen Instrument Gesamtschule möglich sind.

Von oben verordnet

4. Stutzig machen muss, dass dieses Projekt gegen den Willen der Mehrheit in diesem Land durchgesetzt werden soll, und zwar als Regelschule. Solidarität soll gleichsam von oben verordnet werden. Fast hat es den Anschein, als ob man die Last für eine staatliche Verpflichtung (Solidarität mit sozial, ökonomisch und kulturell Schwächeren) auf jene Eltern abwälzen will, die ihre Kinder bislang gratis ins Gymnasium schicken konnten. Die bisherigen Gymnasiasten sind es nämlich, die die neue Gesamtschule anziehend machen sollen. Wenn die Gesamtschule oder die Neue Mittelschule wirklich so attraktiv ist, wie ihre Befürworter wortreich erklären, dann wäre der faktische Zwang unsinnig, weil die Gesamtschule sich großen Zustroms erfreuen würde. Weil dies aber kaum der Fall sein wird, werden jene, die es sich finanziell richten können, ihre Kinder in teure Privatschulen schicken. – Ob das wirklich sozial gerechter ist?

Unser Bildungssystem braucht motivierte, fachlich und pädagogisch hervorragende Lehrer, Durchlässigkeit und Vielfalt. Das Gymnasium, das Flagschiff österreichischer Bildung, sollten wir jedoch nicht für ein Butterbrot vager Hoffnungen aufgeben. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.5.2007)