Peter Filzmaier findet es mittlerweile "legitim, dass über Elemente des Mehrheitswahlrechts diskutiert wird." Im Gespräch mit Rosa Winkler-Hermaden nennt er außerdem Vor- und Nachteile des Mehrheitswahlrechts, beschreibt Zusammenhänge zwischen politischer Kultur und Wahlrecht, und äußert Zweifel daran, dass es in der jetzigen Legislaturperiode zu einer Änderung des Wahlrechts kommen wird.
derStandard.at: Welche Argumente sprechen für, welche gegen das Mehrheitswahlrecht?
Peter Filzmaier: Das meiste, das jetzt diskutiert wird, sind Mischformen von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. In seiner pursten Form ist das klassische Argument für das Mehrheitswahlrecht Effizienz. Das heißt Wahlsieger sollen für ihre Programme gewählt werden und nicht durch Koalitionen zu Kompromissen gezwungen werden. Sie sollen ihr Programm auf Grund der sicheren Mehrheit umsetzen können. Die geringe Wahrscheinlichkeit eines Koalitionszwangs führt zu erhöhter Effizienz, der Wahlsieger kann sein Programm auch wirklich umsetzen.
Das klassische Gegenargument ist, dass man dafür Gerechtigkeit aufgibt. Beim Verhältniswahlrecht schaut die Gerechtigkeit so aus, dass eine Partei, die 30 oder 40 Prozent der Stimmen hat auch 30 oder 40 Prozent der Mandate erhält. Wenn aber jetzt beim Mehrheitswahlrecht eine Partei 30 oder 40 Prozent der Stimmen erhält, dann bekommen Sie mindestens 50 Prozent der Mandate. Das führt zu einer Verzerrung.
derStandard.at: Wer sind die Verlierer beim Mehrheitswahlrecht?
Filzmaier: Auf lange Sicht führt das System zu einem Zwei-Parteiensystem. Nur zwei Parteien haben die realistische Chance, jemals Regierungsstatus zu erhalten. "The Winner takes all, the Loser gets nothing" sagt man dazu in den USA, wo dieses System angewandt wird. Die Kleinparteien haben nur in kleinen Wahlkreisen die Chance gewählt zu werden. Sie haben keine reelle Chance einer Regierungsbeteiligung.
derStandard.at: Welche Vorschläge für Mischformen von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht gibt es?
Filzmaier: Die Diskussion der letzten Tage zum Thema war noch etwas diffus. Längerfristig gab es aber zwei Vorschläge, die im Diskurs waren. Der eine Vorschlag kam von Klaus Poier von der Uni Graz, eher ein ÖVP naher Vorschlag: Er ist für das Verhältniswahlrecht, aber die Verteilung der Mandate soll sich ändern. Der Wahlsieger soll auf jeden Fall mindestens 50 Prozent der Mandate bekommen. Das würde sichern, dass die kleinen Parteien nicht hinausfliegen, aber die geringe Chance, Regierungsmacht zu erlangen, bleibt.
Der zweite Vorschlag kam aus der SPÖ. Es gab vor langer Zeit einmal eine Arbeitsgruppe um Caspar Einem. Hier wurde diskutiert, 100 Mandate in Personenwahlkreisen, die restlichen 83 nach dem Verhältniswahlrecht zu wählen. Auch das würde sichern, dass die Kleinparteien nicht aus dem Parlament hinausfallen. Es würde ihnen aber mit hoher Wahrscheinlichkeit die Chance nehmen, sich an der Regierung zu beteiligen.
derStandard.at: Wie sollte das zukünftige Wahlrechtsmodell Ihrer Ansicht nach aussehen?
Filzmaier: Die Argumente Effizienz und Gerechtigkeit sind nicht vollkommen vereinbar. Auch eine Mischform gibt Gewichtungen vor. Man muss sich die Frage stellen, wie das Wahlrechtssystem zur politischen Kultur passt. In den USA, wo es das pure Mehrheitswahlrecht gibt, entspricht es der politischen Kultur des Wettbewerbgedankens - "The Winner takes all" passt zur amerikanischen Mentalität.
In Österreich hingegen war die Einführung des Verhältniswahlrechts historisch unbedingt nötig. In den Anfängen der zweiten Republik nach sieben Jahren nationalsozialistischem Regime war die Eintscheidung für das Verhältniswahlrechts mit dem Argument Gerechtigkeit und bloß nicht "The Winner takes all" sehr klug und weise.
Jetzt - mehr als 60 Jahre nach Kriegsende und Beginn der zweiten Republik - hat sich unser Demokratiegedanke schon sehr verfestigt. Wir vertragen einen schärferen Wettbewerb und deshalb halte ich es für sehr legitim, dass über Elemente des Mehrheitswahlrechts diskutiert wird. Bedingung ist aber die vollkommene Transparenz der Nachteile: Zum Beispiel sind Quoten beim Mehrheitswahlrecht nicht mehr verwirklichbar, etwa solche nach dem Geschlecht. Wenn in einem Ein-Personen-Wahlkreisen 100 oder 180 Männer über 50 gewählt werden, dann ist es so. Da kann man dann nicht sagen, so und soviel Prozent sollen Frauen sein. Das ist für mich einer der gewichtigsten Nachteile.
derStandard.at: Warum sind auch oft die Großparteien - SPÖ und ÖVP - gegen das Mehrheitswahlrecht? Josef Cap zum Beispiel hat sich schon öfter für das Verhältniswahlrecht und gegen das Mehrheitswahlrecht ausgesprochen.
Filzmaier: Die Möglichkeit, Erster zu werden, ist groß. Das Risiko, nicht Erster zu werden, ist aber genauso groß. Mit dem Verhältniswahlrecht groß gewordene Politiker schreckt das "Alles oder nichts"-Prinzip ab. Außerdem kann man in der Politikwissenschaft und bei Wahlen nicht - wie in den Naturwissenschaften - experimentieren. Die Warnung vor Unwägbarkeiten gibt es nicht.
derStandard.at: Welche Vorteile hat das Mehrheitswahlrecht für den Wähler?
Filzmaier: Die Distanz zwischen Bürgern und Abgeordneten wird kleiner. Die Bürger wählen "ihren" Abgeordneten, den sie dann auch zur Verantwortung ziehen können. Momentan ist es so, dass die Bürger zu ihren Wahlkreisen wenig Bezug haben. Das würde sich bei Ein-Personen-Wahlkreisen, wo die Abgeordneten direkt gewählt werden, ändern. Mehrheitswahlrecht führt zu einem kandidatenzentrierten Wettbewerb, während das Verhältniswahlrecht ein parteienzentrierter Wettbewerb ist.
derStandard.at: Wird es in Österreich zu einer Änderung des Wahlrechts kommen?
Filzmaier: Ich glaube, dass auf ganz lange Sicht eine Mischform kommen wird. Ansatzweise gibt es die Mischform ja schon durch die Vorzugsstimmen und die Mindestprozentklausel.