Wien - Was der Kirche das Kondom, ist der Bildungspolitik die Gesamtschule, stellte Standard-Chefredakteur Gerfried Sperl fest: In beiden Fällen weiß man zwar von seiner Existenz, aber verwendet wird der verpönte Begriff nur äußerst ungern. Und tatsächlich: Einen Großteil des Standard-Montagsgesprächs verbrachten die Diskutanten mit einem Eiertanz rund um das Wort Gesamtschule. "Viel Herumrederei" gebe es um dieses "unangenehme Wort", gab die Wiener ÖVP-Stadträtin Katharina Cortolezis-Schlager zu.
Erziehungswissenschafter Karl-Heinz Gruber kommt das "dirty Word", wie er es nennt, ganz leicht über die Lippen. Das Problem bei der österreichischen Gesamtschul-Debatte sei jedenfalls die ungeklärte Begrifflichkeit, glaubt Gruber. Er führte internationale Beispiele an: So gebe es in Deutschland eine "Pseudo-Gesamtschule" als drittes System, die nicht viel mehr als "vergebliche Liebesmüh'" sei. Auch in England oder Frankreich würden die Eltern das System durchaus ausnützen, erklärte Gruber - etwa mit dem "Überlisten" des Sprengelsystems.
Elterliches Streben
"Das elterliche Streben nach Wahl ist nun einmal unvermeidlich", glaubt der Erziehungswissenschafter. Diese "subjektive Chancenmaximierung" sei verständlich, schließlich sei es ja die Aufgabe der Eltern, darauf zu schauen, dass die Bildung ihrer Kinder funktioniert.
Genau das ist das Anliegen von Margit Johannik, Geschäftsführerin des Bundeselternverbandes. "Verbesserungswürdig" sei das derzeitige System, lautete ihr vorsichtiges Urteil, das "Mascherl" sei aber nicht das vorrangige Thema. "Eine inhaltliche Debatte und keine Türschilddebatte" wünscht sich auch Cortolezis-Schlager.
Apropos Inhalte: Seit 1999 werde - zumindest laut Lehrplan - an den Hauptschulen und Gymnasiums-Unterstufen ohnehin der gleiche Kernstoff unterrichtet, erklärte Cortolezis-Schlager. Dieses Argument ließ Gruber nicht gelten: Die "schöne Vision" vom gemeinsamen Lehrplan sei eine der "größten Schlitzohrigkeiten der Bildungspolitik". Selbst ein wortidenter Lehrplan für die Unterstufe ändere nichts am realen Lehrplan einer Schule.
Heftig kritisierte Gruber auch das "Abschiedsgeschenk" von Bildungsministerin Elisabeth Gehrer, nämlich die "gnadenlosen" AHS-Aufnahmeprüfungen. Ohnehin gebe es für die Trennung mit zehn Jahren keinerlei pädagogische Gründe.
Stellvertretend für die AHS-Lehrer, bekanntermaßen nicht unbedingt Fans der Gesamtschule, saß Vize-Gewerkschaftsvorsitzender Michael Zahradnik am Podium. Er will "nicht Ja oder Nein sagen, bevor ich nicht das konkrete Modell kenne". Sollte es tatsächlich eine Gesamtschule geben, dann nur unter "finnischen Verhältnissen", erklärte Zahradnik. Denn: "Dort hat man viel Geld, Zeit und Hirnschmalz in die Entwicklung des Systems investiert."
Auch Cortolezis-Schlager hält nichts von "Husch-Pfusch-Aktionen": Das von Stadträtin Grete Laska und Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl angepeilte Wiener Gesamtschul-Pilotprojekt bezeichnete sie als "absolut unseriös". Täglich würde sie, erzählt Cortolezis-Schlager, mit Anrufen und Mails bombardiert, in denen sie gebeten werde, "zu verhindern, dass in Wien ein Chaos entsteht".
Ohnehin brauche man im Zuge der Schulreform eine Föderalismus-Debatte, forderte die Stadträtin. Nicht alle Ressourcen, die vom Bund ausgeschüttet werden, würden auch in den Schulen ankommen - der Landes- bzw. Stadtschulrat sei in Fragen des Budgets "mehr hinderlich als förderlich und daher entbehrlich".
Gewerkschafter Zahradnik sprach die umstrittene Frage der Lehrerbildung an: "In Finnland gibt es da keinen pädagogischen Beruf ohne voll-universitäres Studium. Unter dieses Niveau darf man in Österreich nicht gehen."