Tony Judt

Foto; Heribert Corn/ DER STANDARD
Mit einem Vortrag unter dem provokanten Titel „Die Israel-Lobby und die US-Außenpolitik“ ist der Historiker Tony Judt , diesjähriger Hauptpreisträger des Kreisky-Buchpreises, in den USA schwer angeeckt

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Standard: Sie werden in den nächsten Tagen in Wien einen Vortrag halten. Fürchten Sie nicht, dieser könnte „delikat“ verhindert werden, wie in New York, als ihr mittlerweile legendäres Israel-Referat in letzter Minute abgesagt wurde?

Tony Judt: Nein, denn dies hatte spezifisch amerikanische Gründe. In den USA ist – nicht zuletzt durch die Israel-Lobby – alles, was Israel anlangt, so sensibel und kompliziert, dass es nahezu unmöglich ist, dieses Thema in die öffentliche Arena zu bringen, ohne einen hohen Grad an Unbehagen zu erzeugen.

Standard: Wir haben auf der einen Seite die großen jüdischen Institutionen wie die Anti-Defamation-League und auf der anderen Seite liberale Juden wie Sie oder die hunderten Unterzeichner des offenen Protestbriefs zur „Judt-Affäre“. Spaltet sich die jüdische Diaspora?

Judt: In gewisser Weise, ja. Darüber werde ich auch im Kreisky Forum sprechen. Die Israel-Lobby, und diese ist nicht rein jüdisch, sie inkludiert auch christliche Gruppen, ist aber eine politische Institu_tion. Es ist eine politische _Pressuregroup wie die Waffen- oder die Öllobby, die nahezu ausschließlich nur in Washington existiert. Sie ist keine offizielle Repräsentantin der jüdischen Diaspora. Nach wie vor ist die Mehrheit der amerikanischen Juden eher liberal als konservativ in allen politischen Fragen. Nur in Bezug auf Israel kommt es zu solch einer Spaltung. Ich sehe das aber nicht nur als Spaltung innerhalb der Gemeinde, sondern als eine wirkliche Spaltung des öffentlichen Diskurses.

Standard: Muss sich die Diaspora durch das Verhältnis zu einem Territorium, in dem Fall Israel, definieren? Judt: Ja, das ist ein interessantes Paradoxon. Amerikanische Juden sprechen nicht Jiddisch, sie sprechen nicht Hebräisch, sie gehen nicht in die Synagoge, sie sind völlig amerikanisch. Ihr Judentum bestimmt sich durch zwei Momente: Durch eine Identität im Raum, das ist die Identifizierung mit Israel, selbst für jene, die niemals dort waren. Und durch eine Identität in der Zeit, eine Identifizierung mit Auschwitz. Jude sein in Amerika bedeutet, Auschwitz erinnern und Israel unterstützen, weil Israel der beste Schutz vor einem neuen Holocaust ist.

Standard: Nur in Amerika?

Judt: Jedenfalls ist das sehr spezifisch amerikanisch, auch wenn ein paar französische Intellektuelle versuchen, das zu reproduzieren oder zu importieren.

Standard: Und wie sollte sich die Diaspora dann definieren? Etwa antizionistisch?

Judt: Nein, ich denke nicht, dass sie antizionistisch sein sollte, aber wir können nicht so weitermachen, dass Juden, auch wenn sie österreichische, französische, schwedische oder australische Staatsbürger sind, sich in besonderer Weise mit Israel identifizieren. Denn das bedeutet, dass sie auch mit Israel identifiziert werden, wenn Israel Dinge tut, die antiisraelische, antijüdische Gefühle hervorrufen. Auf gewisse Weise produziert die Diaspora den Antisemitismus – durch ihre Weigerung, eine Differenz zwischen sich und den unabhängigen Staat Israel zu machen. Wir müssen eine Wahl gegen solch eine negative Diaspora treffen. Das bedeutet, dass Juden in Amerika, in England oder in Österreich einen Weg finden müssen, Jude zu sein und Österreicher. Die liberale Geschichte der Diaspora muss eine der Integration sein. Da gibt es keinen dritten Weg.

Standard: In Ihrem Buch „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart”, für das sie den Kreisky-Preis erhalten, schreiben sie, dass die Erinnerung an die Shoah die Humanität des heutigen Europas garantiert. An Israel kritisieren Sie aber genau dieses Erinnern.

Judt: Sie haben völlig Recht. Willkommen in der Komplexität des Lebens. In Frankreich, Österreich oder Polen ist das Erinnern an die Ereignisse des 2. Weltkriegs absolut zentral für die Identität Europas. Und wenn es nicht mehr erinnert werden kann, muss es gelehrt werden. Es ist das Kernstück unserer kollektiven Identität. Aber in Israel ist dieses Erinnern pervertiert. In Israel ist es das wesentliche pädagogische Werkzeug, das Israelis lehrt, sie seien immer Opfer, das Loyalität mit Israel erzeugt – kurz, es ist das, was Israel daran hindert, ein normaler Staat zu werden.

Standard: In Ihrem Buch beschreiben Sie auch die Rückkehr des „lebendigen Anderen“ in Form von Migranten und Fremdarbeitern, nachdem dem alten Multikulturalismus 1914 bis 1945 der garaus gemacht worden ist. Sind wir heute besser gewappnet dafür?

Judt: Sowohl der holländische Multikulturalismus als auch der Antimultikulturalismus, wie etwa der französische Republikanismus, sind Modelle, die nicht funktionieren.

Standard: Ist also die Diaspora ein gutes Modell für diese Situation?

Judt : Es ist ein mögliches Modell unter gewissen Umständen. So ist die Diaspora der Menschen vom indischen Subkontinent in England, abgesehen vom Fundamentalismus einiger Junger, sehr erfolgreich. Da hat man eine Diaspora, die, kulturell, sprachlich, familiär, sehr stark an die Herkunftsländer gebunden ist und die gleichzeitig auch eindeutig Teil des neuen Landes ist. Diese Multiidentität ist entscheidend und fruchtbar. Die Herausforderung besteht nun darin, dass dieses Modell nicht nur für die Eliten funktioniert. Das aber ist ein politisches und kein kulturelles Problem. (Isolde Charim, DER STANDARD, Printausgabe, 9.6.2007)