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Menschen werden wie Zugvögel, auf der Suche nach einer gesicherten Existenz

Fotos: EPA, Reuters; Montage: Fatih

Will man den Vorgang der Globalisierung beschreiben, so muss man bei zwei Stichworten ansetzen: Bewegung und Entgrenzung. Die Bewegung erfasst alles: Menschen, Waren, Zeichen, Informationen, Dienstleistungen. Sie bedeutet gleichzeitig auch eine Entgrenzung, die etablierte Wirtschaftsstandorte ebenso auflöst wie kulturelle Identitäten. Um die tiefgreifenden Auswirkungen solch einer umfassenden, transnationalen Zirkulation zu erfassen, bedarf es eines neuen Vokabulars. In den Kulturwissenschaften, die sich diesen Fragen seit Längerem widmen, spricht man in diesem Zusammenhang nicht mehr von Exil oder Minderheiten. Aus den Diskussionen um den Postkolonialismus ist vielmehr ein neuer Begriff hervorgegangen: die Diaspora. Dieser ist der Schlüsselbegriff für aktuelle Gruppenbildungs- und Identifikationsprozesse.

Viele Diasporas

Diaspora wird gemeinhin mit dem Judentum assoziiert. Tatsächlich ist der Begriff aber viel umfassender. Nicht nur gibt es viele Diasporas - schwarze, armenische, asiatische, indische usw. -, diese wird heute auch nicht mehr primär zur Darstellung einer Leidensgeschichte von Exil und Verfolgung gebraucht. Diaspora, gemäß dem ursprünglichen Wortsinn Zerstreuung und Verbreitung, wird nun überwiegend positiv verstanden. Losgelöst von seiner negativen Konnotation, eröffnet der Begriff einen Blick auf die Komplexität von Lebenssituationen in der Fremde.

Denn das wesentliche Moment einer Diaspora-Gruppe ist nicht die Abgrenzung, sondern die Interaktion, die quasi trotzdem mit dem neuen Wohnland entsteht. Die Rede von der isolierten Parallelgesellschaft lässt uns leicht die Realität der überwiegenden Mehrheit solcher Gruppen übersehen: die Vermischung, die Auflösung eindeutiger Identitäten und fixer Kulturen. Statt den klar getrennten Mehrheits- und Minderheitsgesellschaften, erleben wir die Entstehung von etwas Drittem, das weder "wir", noch "sie" ist. Ebendies versucht der Diasporabegriff zu erhellen.

Keine reine Kultur

Dazu ist es notwendig, Diaspora vom Multikulturalismus abzugrenzen. Im - spätestens seit der Ermordung Theo van Goghs in die Krise geratenen - Multikulturalismus war der Fremde der Träger einer eindeutigen, authentischen, anderen Identität. Als solcher musste er unserer Sehnsucht nach Echtem und Ursprünglichem Genüge leisten. Tatsächlich ist diese Vorstellung einer reinen Kultur des Anderen aber eine Folklore. In der Realität überwiegen Bindestrich-Identitäten, Deutsch-Türken oder Tschechien-Österreicher: komplexe, mehrfach kodierte Identitäten, die nicht mehr mit einem nationalen Schema fassbar sind.

Neuer Begriff der Nation

Dies hat umgekehrt aber auch eminente Auswirkungen auf das Konzept der Nation. Die Zeiten, wo diese als Raum einer einheitlichen Kultur vorgestellt werden konnte, sind vorbei. Die kulturelle Vermischung betrifft nicht nur die diasporische Gemeinschaft. Sie hat längst die Nation erreicht. Dies wird besonders am Begriff der Assimilation deutlich. Noch immer denken wir diese im Sinne jenes nordamerikanischen Rituals des 19. Jahrhunderts, bei dem Neuankömmlinge im Durchgang durch eine Scheune ihre nationalen Trachten ablegten und als Amerikaner neu eingekleidet am anderen Ende herauskamen. Heute, wo keine Kultur unberührt ist von der Globalisierung, wo keine Nation mehr eine tatsächliche kulturelle Einheit gewähren kann, müssen wir uns die Frage stellen: Assimilation an was? (Isolde Charim, DER STANDARD Printausgabe, 9./10.6.2007)