Josef Kirchengast Tony Blair war es noch vergönnt, Jacques Chirac nicht mehr. Der G8-Gipfel in Heiligendamm bot dem britischen Premierminister die Gelegenheit zu einer Abschiedsvorstellung auf internationaler Bühne. Für Chiracs Nachfolger Nicolas Sarkozy war es die Premiere, und seinem Gesten- und Mienenspiel nach zu schließen, hat er sie genossen. Männern wie Blair, Chirac und Sarkozy sieht man es an, dass Politik und Macht ihr Lebenselixier sind – und das ist vermutlich das Beste, das man über sie sagen kann: Sie tragen ihr Charisma im Gesicht und sind in diesem Sinne authentisch und ehrlich, auch dann, wenn sie lügen.

Liebeserklärung

Mit Sicherheit ehrlich gemeint war die Liebeserklärung an die Nation, mit der sich Chirac am Vorabend der Amtsübergabe an Sarkozy in einer Fernsehansprache als Präsident von den Franzosen verabschiedete. Spontaneität und Unmittelbarkeit im Umgang mit Menschen zählten stets zu den Stärken Chiracs, auch nach Ansicht seiner Gegner, von denen er im Laufe seiner 42 Jahre in öffentlichen Ämtern unzählige zur Strecke brachte.

Chiracs Ehrlichkeit

Ehrlichkeit bestimmte auch Chiracs größte Leistung, die das Prädikat historisch wirklich verdient: Im Juli 1995, kurz nach seiner ersten Wahl zum Staatschef, bekannte er als erster Präsident des Landes öffentlich die Mitschuld Frankreichs bei der Vernichtung der Juden durch die Nazi-Besatzer: „Diese Stunden der Finsternis besudeln für immer unsere Geschichte.“ Seine Impulsivität bescherte Chirac aber auch die größten Niederlagen: So, als er 1997 ohne Not Neuwahlen ansetzte und danach mit einem sozialistischen Premier „kohabitieren“ musste. Und, in den Konsequenzen noch weit schlimmer: als er 2005 das Referendum über die EU-Verfassung abhalten ließ, in völliger Fehleinschätzung der nationalen Stimmungslage. Der Mangel an strategischem Denken und langfristig angelegtem Handeln verhindert wohl auch, dass Chirac als großer Staatsmann in die Annalen eingeht. Chirac hatte durchaus Visionen, etwa die Überwindung der „sozialen Spaltung“ Frankreichs, aber seine praktischen Fähigkeiten hielten damit nicht Schritt. Im Grunde begann sein langer Abschied schon bald nach jener Sternstunde des 16. Juli 1995. Das offizielle Adieu am 15. Mai 2007 zeigte dann wieder die sympathische Seite Chiracs – ungeachtet dessen, ob ihn die diversen Parteiaffären noch einmal einholen werden: gefühsbetont, an die Solidarität der Franzosen appellierend, ohne rückblickende Rechthaberei oder Rechtfertigungsversuche.

Undankbare Briten

Wie ist das bei Tony Blair, der am 27. Juni an seinen Langzeitrivalen und einstigen Mitstreiter Gordon Brown übergibt? Seit seiner zweiten, wegen des Irak-Engagements nur noch knappen Wiederwahl als britischer Premier im Mai 2005 zelebrierte der einstige Labour-Rebell seinen Abgang in Raten. Einer Ankündigung der Ankündigung seines möglicherweise baldigen Rücktritts folgte die nächste. Es schien, als wolle Blair den undankbaren Briten einbläuen, was sie an ihm hätten und nun bald verlieren würden.

Rechtzeitig vor dem G8-Gipfel erschien im Economist ein dreiseitiger Essay Blairs mit dem Titel „Was ich gelernt habe“. Da steht neben einer Reihe von Allgemeinplätzen auch einiges Gescheites drinnen, etwa über die künftige Partnerschaft zwischen Staat und mündigem Bürger. Was Blair zu seinem wundesten Punkt, der Beteiligung am Irakkrieg und den Folgen, zu sagen hat, lässt einen freilich die Augen reiben: „Wir können wieder und wieder darüber debattieren, ob es richtig oder falsch war, Saddam zu stürzen. Aber die Realität ist, dass, wenn man Al-Kaida (im Irak vor dem Sturz Saddams) aus dem Konflikt in und um Bagdad herausnehmen würde, ohne die Autobomben gegen Zivilisten und die Zerstörung der Moschee von Samarra, es möglich wäre, die Situation zu beruhigen.“

Al-Kaida hat sich im Irak nach inzwischen unbestrittener Einschätzung erst als Folge der Invasion breit gemacht. Wenn Blair glaubt, was er da schreibt, kann das nur psychologisch erklärt werden: Die Wirklichkeit wird zur Rechtfertigung des eigenen Handelns umgedeutet. Sollte dies das Vorrecht großer Männer sein, dann darf sich Blair dazuzählen. Im Übrigen überlässt er, wie er selbst sagt, das endgültige Urteil der Geschichte. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, Printausgabe, 9.6.2007)