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Präsident Sarkozy, im Moment wegen seiner angeblichen Trunkenheit auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm in aller Munde (derStandard.at berichtete), auf Wahlkampftour in Valdeblore, im Südosten Frankreichs.

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Zur Person
Dr. Thomas Angerer ist Assistenzprofessor für Neuere Geschichte an der Universität Wien.

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Fünf Wochen nach Nicolas Sarkozys deutlichem Sieg bei der Präsidentschaftswahl hat das rechte Regierungsbündnis UMP die erste Runde der Parlamentswahl ebenfalls klar gewonnen. Zusammen mit ihren Verbündeten könnte sie sich nach der zweiten Runde am kommenden Sonntag 383 bis 501 der 577 Sitze in der Nationalversammlung sichern. Für den Historiker Thomas Angerer bringt das Wahlergebnis jedoch zahlreiche Probleme mit sich. Im Interview mit Christa Hager schildert er die Krisen des politischen Systems in Frankreich und hält besonders die im Entstehen begriffene "Präsidialdemokratie" für demokratiepolitisch bedenklich.

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derStandard.at: Auffallend bei den Parlamentswahlen ist die geringe Wahlbeteiligung - die NichtwählerInnen wurden zur zweitstärksten "Partei". Desinteresse oder Resignation?

Thomas Angerer: Beides – wobei sich allerdings nur ein Trend verstärkt hat, der in Frankreich bei Parlamentswahlen schon seit zehn Jahren zu beobachten ist und bei allen übrigen Wahlen sogar noch länger. Eine Trendumkehr gab es nur bei den letzten Regionalwahlen und den jüngsten Präsidentschaftswahlen, als Reaktion auf die Rekordenthaltung bei den Präsidentschaftswahlen von 2002. Diese Ausnahmen bestätigen aber nur die Regel: Langfristig steigt die Wahlenthaltung.

derStandard.at: Welche Gründe gibt es dafür?

Thomas Angerer: Zunächst einmal wegen einer doppelten Krise des politischen Systems: einer Repräsentationskrise und einer Funktionskrise. Die Wählerinnen und Wähler fühlen ihre Anliegen nicht ausreichend vertreten, ihr Vertrauen in die politische Klasse schwindet: Das ist die so genannte Repräsentationskrise und treibt die Stimmenthaltung in die Höhe.

Nun steckt das politische System in Frankreich auch in einer Funktionskrise. Entweder blockiert es, oder es gerät aus dem Gleichgewicht. Wenn der Präsident keine Parlamentsmehrheit hat und die Regierung aus dem gegnerischen Lager kommt, blockiert das System, weil die Opposition gegen den Präsidenten an der Regierung ist (ein rechter Präsident, ein linker Ministerpräsident oder umgekehrt). Das ist die so genannte „cohabitation“. Sie schadet beiden Seiten, denn sowohl die gemäßigte Rechte als auch die Linke verlieren darin so stark an Profil, dass sie ihre WählerInnen zu Scharen in die Arme radikaler und extremistischer Parteien treiben, die keine ernsthafte Alternative bieten.

Nachdem man die Erfahrung drei Mal gemacht hatte, bekam man Le Pen in der Stichwahl. Eine vierte "cohabitation" wollen daher sogar die meisten Gegner Sarkozys nicht. Wenn aber die Parlamentswahlen nur mehr dazu da sind, dem Präsidenten die nötige Regierungsmehrheit zu verschaffen, dann verlieren sie an Interesse und demobilisieren die WählerInnen. Vor allem, wenn die Entscheidung bei der Präsidentschaftswahl so eindeutig gefallen ist wie beim Triumph Nicolas Sarkozys über Ségolène Royal. Mit den Präsidentschaftswahlen waren die Parlamentswahlen also schon gelaufen! Daher fragten sich viele: Wozu schon wieder zur Wahl gehen?

derStandard.at: Welches Gewicht hat das Parlament dann noch?

Angerer: Wenn der Präsident im Parlament eine starke Mehrheit hat, dann wandert die ganze Macht zum Präsidenten und verliert das Parlament weitgehend an Bedeutung. Das System verliert das Gleichgewicht – und dies ist die andere Dimension seiner Funktionskrise; auch sie kommt von einer Schwäche der Verfassung der Fünften Republik und wurde bei der Verfassungsreform von 2000 wider Erwarten eher verschlimmert als verbessert. Als Gegenreaktion zu seiner Stärke in der Vierten Republik gehörte das Parlament der Fünften Republik schon immer zu den schwächsten im internationalen Vergleich der Demokratien.

Als eine Verfassungsreform die Amtszeit des Staatspräsidenten von sieben auf fünf Jahre verkürzte und an die Dauer einer Legislaturperiode anglich, erwarteten die meisten Verfassungsrechtler und Politologen eine Parlamentarisierung der Republik. Weit gefehlt! Staatspräsident Chirac und Ministerpräsident Jospin – wir hatten die dritte „cohabitation“ – einigten sich nämlich auf einen Wahlkalender, den das Parlament auch mit den Stimmen der Sozialsten annahm und der eine Parlamentarisierung des Systems verhinderte: Die Präsidentschaftswahlen wurden vor den Parlamentswahlen angesetzt statt umgekehrt. Das war eine entscheidende Weichenstellung, denn damit war klar, dass die Grundentscheidung bei den Präsidentschaftswahlen fallen und bei den Parlamentswahlen höchstens nachjustiert werden sollte.

derStandard.at: Tritt durch die Wahlen die Schwäche des politischen Systems nun offen zutage?

Angerer: Die jüngste Präsidentschaftswahl hat das Parlament noch mehr geschwächt, selbst wenn Sarkozy sein Versprechen wahr macht, die "besondere Vertrauensfrage" nach Art. 49, Abs. 3 abzuschaffen, eine höchst problematische, doch von allen Regierungen gern benützte Verfassungsbestimmung, mit der die Regierung Gesetze, auch weitreichende, durchs Parlament bringen kann, ohne darüber debattieren und abstimmen zu müssen, wenn binnen 24 Stunden kein Misstrauensantrag Erfolg hat. Die Wahl Sarkozys brachte nämlich in jedem Fall eine weitere Präsidialisierung des politischen Systems: Unter ihm ist der Ministerpräsident nur mehr eine Art Super-Kabinettschef des Präsidenten.

Anders als in Österreich, wo der Bundespräsident froh sein kann, wenn er über die Arbeit des Ministerrats gut informiert ist, leitet in Frankreich der Staatspräsident die Regierungssitzungen. Wie im Wahlkampf angekündigt ist Präsident Sarkozy jedoch noch einen Schritt weiter gegangen: Er hat auch wesentliche Aufgaben übernommen, die bislang der Ministerpräsident erledigt hatte, und macht nun permanent Tagespolitik.

Die Präsidialdemokratie ist nun also weitgehend perfekt. Wer mit Demokratie auch "checks and balances" verbindet, dem kommen allerdings demokratiepolitische Bedenken. Der Weg, den Sarkozy eingeschlagen hat, um aus der Funktionskrise des Systems zu kommen, könnte in eine Legitimationskrise führen. Wie dem auch sei: Wenn alles nur mehr am Staatspräsidenten hängt, gibt es jedenfalls noch weniger Anreiz, zu den Parlamentswahlen zu gehen.

Dies vor allem dann, wenn das Lager der Gegner wenig zu bieten hat und keine attraktive Opposition verspricht. Leider ist genau dies der Fall: Die Sozialisten stecken in einer Orientierungskrise, die neue Zentrumspartei Bayrous ist ein Flop, die Kommunisten haben ihre Rolle ausgespielt, die Grünen sind zerstritten und radikalere Linksparteien sind ohnehin lieber außerparlamentarisch tätig.

derStandard.at: Besonders in den Vorstädten gab es eine geringe Wahlbeteiligung. Wie erklärt sich dies?

Angerer: Die Bevölkerung der benachteiligten Vorstädte fühlt sich von der politischen Klasse besonders schlecht vertreten, daher geht sie besonders wenig zur Wahl. Die jüngsten Präsidentschaftswahlen bildeten eine Ausnahme, denn da konnten und wollten diese Teile der Bevölkerung ihre Ablehnung Sarkozys zum Ausdruck bringen. Doch wurde die Präsidentschaftswahl ein Triumph für Sarkozy. Damit fiel der entscheidende Mobilisierungsgrund weg. Von der negativen zur positiven Politisierung ist es ein weiter Weg, und vorerst gilt erst einmal der Rückkehr zur Normalität, also zu einer hohen Wahlenthaltung.

derStandard.at: Liegt die vergleichsweise sehr hohe allgemeine Wahlbeteiligung von rund 84 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen nicht auch primär dem Personenwahlkampf und der damit verbundenen medialen Berichterstattung zugrunde?

Angerer: Ja, das spielt eine entscheidende Rolle. Doch die Präsidentschaftswahlen sind in Frankreich tatsächlich die mit Abstand wichtigsten Wahlen. Das wissen die WählerInnen und irren sich nur bei den zweitwichtigsten: Mindestens so wichtig wie die Wahlen zur Nationalversammlung sind in Frankreich – nicht zuletzt weil das Parlament auf nationaler Ebene so schwach ist – nämlich inzwischen die Wahlen zum Europäischen Parlament. Nur will das niemand hören! Die Wahlenthaltung bei den letzten Europawahlen betrug über 57%.

derStandard.at: Was bedeutet die überwiegende Mehrheit der UMP im Parlament für die Opposition und die GegnerInnen von Sarkozys Reformplänen?

Angerer: Im Parlament wird viel davon abhängen, wie sich der Präsident und seine Regierung verhalten. Wollen sie ihre Stärke voll ausspielen und auf die Opposition keine Rücksicht nehmen, dann kann die Opposition dort wenig tun, außer durch eine Flut von Abänderungsanträgen immer wieder Sand ins Getriebe zu streuen. Allerdings hat der Präsident schon im Wahlkampf angekündigt und inzwischen bestätigt, dass er die Opposition stärker mit in die Verantwortung einbinden will. So soll sie bei bestimmte Personalentscheidungen mitreden und den Vorsitz im wichtigsten Ausschuss übernehmen: dem Finanzausschuss. Es wird darauf ankommen, wie die Opposition damit umgeht; ob sie darin nur eine Falle sieht oder eine Chance, ihre Kontrollfunktion tatsächlich besser ausüben zu können.

Das Wichtigste aber ist: Die Hauptbühne der Präsidenten- und Regierungsgegner verlagert sich durch die Schwäche der Opposition im Parlament automatisch auf die Straße. Das nützt vor allem jenen Reformgegnern, die erst gar nicht ins Parlament gekommen sind und wird noch ein großes Problem für Präsident und Regierung. Denn auf der Straße gibt es keine Geschäftsordnung wie im Parlament, sondern nur einen mehr oder weniger wilden Machtkampf um die Gunst der Medien und der Gewerkschaften. Das begünstigt auf allen Seiten Populismus und enge Interessenpolitik. Die nächste Streikbewegung ist also vorprogrammiert. Deshalb hat es Sarkozy ja auch so eilig, möglichst viel noch während der Sommerferien durchs Parlament zu peitschen.

derStandard.at: Wie ist das schlechteste Ergebnis der Grünen und der Kommunisten zu erklären?

Angerer: Die Grünen gelingt es nach wie vor nicht, in der französischen Öffentlichkeit richtig Fuß zu fassen. Die Reformthemen – auch das Thema Globalisierung – sind dort wirtschaftlich und sozial geprägt, kaum ökologisch. Ein vergleichbares Umweltbewusstsein wie in Deutschland oder Österreich fehlt in Frankreich immer noch – und soweit es sich zu formen beginnt, hat es Sarkozy inzwischen schon für seine eigene Zwecke instrumentalisiert, indem er die Klimapolitik forciert, die Umweltschutzproblematik damit auf globale Ebene hebt und von dem ablenkt, was in Frankreich selbst alles zu tun wäre. Der Gipfel von Heiligendamm fand ja unmittelbar vor dem Wahlgang statt. In Frankreich gab und gibt es auch keine vergleichbare Friedensbewegung wie in Deutschland.

Außerdem haben die französischen Grünen immer schon organisatorische Schwächen: Sie haben einzelne Stars, die zerstritten sind, und eine Basis, die wenig solid ist und eigentlich keine richtige Partei will. Das ergibt Gruppen und Grüppchen, die mit anderen Linksgruppen konkurrieren – und diese Konkurrenz schadet den Grünen sehr. Dazu kommt die Enttäuschung über das schlechte Abschneiden der grünen Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen (Dominique Voynet, 1,57%). Schließlich fehlen den Grünen starke Verbündete, und ohne solche hat man als Kleinpartei in französischen Parlamentswahlen keine Chance, weil sie das Wahlsystem Kleinparteien gnadenlos benachteiligt.

Was die Kommunisten betrifft, so haben sie immer noch besser abgeschnitten als die Grünen, was nicht nur ihrer älteren Tradition und besseren Organisation zuzuschreiben ist, sondern auch einer mitunter sehr erfolgreichen lokalen Verankerung. Insgesamt aber hat sich die KPF überlebt. Eine Partei, deren Geschichte – und Finanzierung – so eng mit der Sowjetunion verbunden ist und die ihre ideologischen Altlasten nicht und nicht los wird, schafft auch in Frankreich heute nicht einmal mehr 5%. Da gibt es auf der äußersten Linken attraktivere Alternativen mit neueren Gesichtern.

derStandard.at: Was wird auf die PS zukommen? Interne Machtkämpfe oder gemeinsame Erneuerung?

Angerer: Interne Machtkämpfe – die sind freilich schon seit der Niederlage Séglène Royals gegen Nicolas Sarkozy wieder voll im Gange. Die Ausgangslage ist für alle Seiten schwierig: Nicht nur wichtige Stützen von Séglène Royal sind im ersten Durchgang der Parlamentswahl schlecht ausgestiegen – Jean-Louis Bianco, Arnauld Montebourg – sondern auch ihr stärkster Gegner, Dominique Strauss-Kahn.

Nichtsdestoweniger zeichnet sich Ségolène Royal als neue Parteiführerin ab. Das ist ein Gebot der Vernunft, denn personelle Alternativen gibt es momentan in Wahrheit noch nicht. Nachdem der gegenwärtige Generalsekretär, François Hollande, endlich erklärt hat, nicht wieder für das Amt zu kandidieren, wird Royal sich früher oder später durchsetzen, nicht zuletzt weil sie keine klar sozialdemokratische Position vertritt wie Strauss-Kahn. Dafür ist die Partei wahrscheinlich noch nicht reif.

Entweder Royal gelingt es dann, die Partei in den Griff zu bekommen und in die Rolle als Herausforderin Sarkozys weiter hineinzuwachsen – dann braucht Sarkozy nur genügend Fehler zu machen und Royal hat bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gute Chancen. Ansonsten bleibt sie eine Übergangsfigur und wird sich die Partei in ideologischen Streitigkeiten und Machtkämpfen verheddern. Für Frankreich und die Sozialdemokratie in Europa wäre das schlimm.

derStandard.at: Das Mehrheitswahlrecht hat bereits im Vorfeld der Wahlen für heftige Diskussionen und Kritik gesorgt. Präsident Sarkozy hat angekündigt, jenes im Zuge einer Wahlrechtsreform zu ändern. Was ist hierbei zu erwarten?

Angerer: Eine Prise Verhältniswahlrecht zugunsten kleinerer Parteien ohne mächtige Verbündete. Das ist zwar bei weitem nicht genug, um das politische System zu verbessern, aber immerhin ein Schritt in die richtige Richtung, über den übrigens schon lange debattiert wird und der nicht so weit geht wie die Einführung des vollen Verhältniswahlrechts durch Mitterrand im Jahr 1986, das den Front National hochgepäppelt hat.

Das reine Mehrheitswahlrecht ist höchst problematisch, zumindest in einem Land wie Frankreich: Die politische Landschaft ist dort nämlich ungleich vielfältiger als hierzulande, und diese Vielfalt muss sich im Parlament halbwegs widerspiegeln, wenn das Parlament seine Rolle spielen können soll. Das jetzt gewählte Parlament wird nicht über die nötige Repräsentativität verfügen, sondern ein Zustimmungsapparat für den Präsidenten sein. Seine Kontrollfunktion wird das neue Parlament kaum wahrnehmen und die politische Meinungsbildung weitgehend den Medien und der Straße überlassen müssen. Die Medien sind sehr präsidentenfreundlich, wer die Straße beherrscht, wird sich zeigen.

(derStandard.at, 14.6.2007)