Graz – Die US-Szene würde die Globalisierung des Jazz verschlafen, unter dem steigenden Druck der monopolisierten Musikindustrie und dem konservativen Einfluss Wynton Marsalis’ mutiere der Jazz im Mutterland immer mehr zu einem musealen Schatten seiner selbst – während der Jazz anderswo, vor allem in Europa, wo er staatliche Förderung genieße, in Mischungen mit ethnischen oder Dancefloor-Musiken in aufregender Buntheit erblühe: So lässt sich eine der hitzig diskutierten Kernthesen auf den Punkt bringen, die der britische Musikjournalist Nicholson in seinem provokant betiteltem Buch Is Jazz Dead? ( Or Has It Moved To A New Address ) dargelegt hat.

Der Jazz sei als Teil der "hegemonialen amerikanischen Kultur" längst eine globale Musik, so Nicholson, der Ende April im Rahmen des 8. Jazzwissenschaftlichen Kongresses des Instituts für Jazzforschung in Graz gastierte. Dies führe einerseits zu Homogenisierung, andrerseits aber vor allem zu Hybridisierung, einer Verschmelzung mit lokalen Elementen zu "glokalen" Dialekten – analog zur "globalen Lingua franca" Englisch, von der es etwa in Singapur ("Singlish") oder Indien ebenfalls längst glokale Varianten gebe. Nicholson: "Der Punkt ist: Englisch ist eine Lingua franca, die weder den Briten noch den Amerikanern gehört. Sie ist im Besitz jeder Sprachgemeinschaft, die sie verwendet – als Werkzeug, sich auszudrücken und zu kommunizieren."

Selbiges gelte für den Jazz, so Nicholson, der als glokale Ausprägungen den südafrikanischen Township-Jazz oder den "nordic tone" nennt – die Verbindung von Einflüssen aus Jazz und Volksmusik (nicht selten auch aus elektronischer Musik) in Skandinavien, wobei vor allem das schwedische Esbjörn-Svensson-Trio als erfolgreiches Vorzeigebeispiel genannt wird.

Für einen traditionsbewussten US-Jazzer ist derlei indessen vieles, nur kein Jazz. Jazz sei und bleibe US-Musik, Jazzmusiker könne nur werden, wer die Kultur und Lebensweise der Afro-Amerikaner verinnerlicht habe – so lehnte Branford Marsalis die Thesen Nicholsons kürzlich ab.

Während das Buch vor allem in den USA wütende Proteste hervorrief, so melden daran auch europäische Beobachter Vorbehalte, ob einer doch vereinfachten Sicht der Dinge an: Vor allem, da Nicholson tendenziell Jazz in den USA weitestgehend mit Wynton Marsalis gleichsetzt und übersieht, dass es auch dort "glokalisierten" Jazz gibt – etwa rund um das "Chicago Asian American Jazz Festival" oder in Gestalt der "Radical Jewish Music"-Reihe John Zorns.

Während im Gegenzug noch immer viele europäische Musiker Jazz weiterhin als musikalische Sprache mit verbindlichen Regeln und nicht nur als Haltung, sich selbst auszudrücken, begreifen.

Als irrelevant abtun kann man Nicholson dennoch mitnichten: Die zurückgehende Präsenz amerikanischer Musiker auf europäischen Festivals passt ebenso in das von ihm skizzierte Bild wie das Ende des Clubs "Tonic", des letzten Refugiums experimenteller Improvisation in Manhattan. Der Ruf nach Subventionen nach europäischem Vorbild, der im Zuge der Proteste gegen die durch Mieterhöhung erzwungene Schließung laut wurde, findet sich auch in Is Jazz Dead? wieder. Nicholson bleibt angesichts der Kritik gelassen. Und führt ein historisches Beispiel für seine Thesen an: "Oper und Italien waren in ganz Europa bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gleichsam synonym. 100 Jahre später wäre niemand mehr auf die Idee gekommen zu sagen, Hector Berlioz’ Les Troyens oder Richard Wagners Tristan und Isolde seien keine Oper." (Andreas Felber, DER STANDARD/Printausgabe, 12.06.2007)