Herbert Müller-Guttenbrunn, "Alphabet des anarchistischen Amateurs". Herausgegeben von Beatrix Müller-Kampel. € 29,80/366 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2007.

Buchcover: Matthes & Seitz
Bereits im September 1928 merkte der Mann beängstigend weitsichtig an: "Was haben wir vom Fernsehen, wenn es uns mit dem Anblick von Arschgesichtern aus Amerika versorgt, wo unser Bedarf an solchen doch vom Inlande reichlich gedeckt wird?" Eine Einschätzung, die der zeitlebens gegen die dumpf-plärrenden Zeiten und die "Naturkraft der Dummheit" anrennende Querkopf am zeitlosen Bubentum festmachte: "Heute werden nicht die Knaben zu Männern, sondern die Männer wieder zu Knaben erzogen. Heroischer Puerilismus ist die herrschende Geistesrichtung dieser in Karl-May-Stimmung getauchten Welt ohne Geist." Dem gelte es, Widerstand entgegenzusetzen: "Meine Aufgabe? Der aussichtslose Versuch, den Spiritus zu rektifizieren."

Der bis dato weit gehend ungeordnete Nachlass von Herbert Müller-Guttenbrunn, eines weit gehend unbekannten österreichischen Anarchisten, Satirikers, Polemikers und "Schülers" von Karl Kraus, der jetzt in Form eines mit großer Liebe gestalteten Alphabets des anarchistischen Amateurs vorliegt, zählt zweifellos zu den großen literarischen Entdeckungen der vergangenen Jahre.

Immerhin müssen die Ausschnitte aus den jahrzehntelang in den Archiven verstaubten Schriften dieses radikalen Individualisten mit Sicherheit zu den von A wie amüsantesten bis Z wie zornigsten schriftstellerischen Dokumenten aus dem Österreich der Zwischenkriegsjahre gerechnet werden – ohne dabei nach gut 70 Jahren an zeitgenössischer Gültigkeit verloren zu haben. Nur sieben Jahre lang, zwischen 1927 und 1934, gab der zeitlebens erfolglose und weit gehend unpublizierte, 1887 in Wien als Sohn des damals gefeierten antisemitischen deutschnationalen Schriftstellers Adam Müller-Guttenbrunn und als Bruder des später ebenfalls als nationalsozialistischer Hausautor gefeierten Roderich geborene Herbert, der nach seinem Dienst als Offizier im Ersten Weltkrieg früher biologischer Landwirt in Semmriach bei Graz und Klosterneuburg bei Wien wurde, im Selbstverlag Das Nebelhorn heraus. Mit 300 Abonnenten und 2000 Lesern im deutschen Raum mögen die Auswirkungen dieser an Die Fackel angelehnten Schriften zwar äußerst bescheiden gewesen sein.

Wider besseres Wissen kämpfte der auch sprachlich oft an seinen erdigen Brotberuf gebundene Autor unbeirrbar für das in jeder Hinsicht "Unversaute". 1935 musste Müller-Guttenbrunn wegen "öffentlicher Herabwürdigung von Anordnungen der Regierung" sowie "Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche" dreieinhalb Monate strengen Arrest absitzen, inklusive einem Fasttag monatlich.

Guttenbrunn, der zuvor aphoristische Geistesblitze und gallig-humorige bis brüllend-komische Aufsätze über Themen wie die Vorhaut Christi, Emanzipation, die Strafgesetze, das "Spermatozoon politikon", die von ihm heftig abgelehnte Psychoanalyse, das Auto oder den Cunnilingus verfasste, ging, wie es so schön heißt, anschließend in die "innere Emigration". Er begann sich mit "sentimentalen Komödien für Theater und Film" ebenso zu beschäftigen, wie er die Lektüre fernöstlicher Philosophie oder Erkenntnisse chinesischer Ackerbaukultur in seine ausschließlich für die Schublade verfassten Schriften einfließen ließ.

Nachdem er 1943 nach zwei Jahren ohne Angaben von Gründen aus der Deutschen Wehrmacht entlassen wurde, verfasste er noch eine bis 1915 datierende, bis heute unveröffentlichte Autobiografie: Aus der Hinterdreinsicht. Ein Rückblick auf mein Leben. Am 10. April 1945 wird er daheim auf seinem Hof in Klosterneuburg von einem russischen Soldaten getötet. Als Gründe werden vermutet: irrtümliche Erschießung als Nationalsozialist, Streit um eine Lederhose, Fund einer Waffe im Haus.

Was mit diesem Alphabet des amateurhaften Anarchisten jetzt an die Öffentlichkeit gelangt, zeichnet nicht nur die Stationen eines radikal gegen jedwede Obrigkeiten und Normen gewandten Lebens nach. Wie meinte Karl Valentin einmal sinngemäß: "Mir Wurst, um was es geht. Ich bin dagegen!" Guttenbrunn kommt in seinen tolldreisten Betrachtungen mitunter auch auf den Kern in jedem Pudel: "Die Hitler-Revolution war die erste Revolution, die nicht gegen, sondern für die Ideale der Polizei gekämpft hat."(Christian Schachinger/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 16./17.06.2007)