Beobachter der Abrüstungskonferenz in Wien diese Woche hatten Mühe zu beschreiben, was sie eigentlich gesehen haben – wobei die Mehrheit freilich nicht wirklich etwas von der KSE-Sondersitzung sah, die hinter verschlossenen Türen stattfand, sondern Berichten einzelner Delegationen über den großen Zusammenstoß Glauben schenken musste: Russland gegen den „Westen“? Oder gar „Ost“ gegen „West“?

Washingtons Diplomaten haben eine ebenso pragmatische wie PR-fähige Formel gefunden, um den alten Begrifflichkeiten des Kalten Kriegs zu entgehen. Man spricht jetzt vom „Willen der Verbündeten“ und „beträchtlicher Solidarität der Verbündeten“, wenn Vertreter ausländischer Staaten zusammenkommen und über eine so heikle Frage wie die der Beschränkung von Soldaten und Waffen im geografischen Europa streiten. Es ist eine Beschreibung für das Lager, in dem die USA im Jahr 2007 stehen und das sie führen möchten, und lässt doch weiten Raum zur Interpretation, wer wir sind und wer die anderen außerhalb der Lagermauern.

Denn der „Westen“ ist eine irreführende Himmelsrichtung auf dem politischen Kompass: Der Nato- und EU-Staat Polen liegt im Osten oder allenfalls in Mitteleuropa, versteht sich aber mit der Inbrunst aller neu Bekehrten als Vorkämpfer des Westens (was manche Westeuropäer angesichts Polens national-katholischer Führung durch die Gebrüder Kaczyñski befremdet). Es gilt nicht anders für die russophoben baltischen Staaten, für gut die Hälfte der politischen Klasse der Ukraine, für die immer noch von einer kommunistischen Partei regierte Republik Moldau, für Rumänen, Bulgaren, Georgier. Ganz Europa ist im „Westen“. Der „Osten“, so scheint es, beschränkt sich nur noch auf Russland und das autokratisch regierte Weißrussland.

Wie absurd und unzulänglich die Einteilung von „Ost“ und „West“ ist, führten die Konferenz über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE) und ebenso der Gouverneursrat der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) in Wien, der sich in dieser Woche einmal mehr mit dem Streit um das Nuklearprogramm des Iran befasst hatte, vor Augen. Moskau und Washington mögen ihren Konflikt um den Kosovo-Status und den geplanten US-Raketenschild nun auf andere Politikfelder wie KSE oder den Iran ausdehnen. Der Dualismus der einstigen Gegner im Kalten Krieg hat trotzdem eine neue, andersartige Qualität. „Ost“ und „West“ sind in der internationalen Politik heute nicht länger nur die Fortschreibung der früheren Machtblöcke ohne ideologischen Überbau und mit einer dezimierten Zahl von Verbündeten für Moskau.

Der politische Westen ist dabei eine vergleichsweise junge Idee. Vor 60 Jahren, in der Juli-Ausgabe von Foreign Affairs 1947, veröffentlichte George Kennan unter dem Pseudonym „X“ seinen Artikel „The sources of Soviet conduct“. Der Diplomat an der US-Botschaft in Moskau hatte erkannt, wohin die Reise mit dem früheren Kriegsverbündeten Stalin plötzlich ging, und legte sein Konzept einer „Politik der Eindämmung“ der sowjetischen Politik dar. Der Kalte Krieg und das Wettrüsten begannen, der „Westen“ gründete sich als Bastion der politischen Freiheit und der Marktwirtschaft, rund 40 Jahre später war der Sieg da. Doch der „Westen“ war nie einheitlich, und er ist es heute, im Gefolge des Irakkriegs, der Krise um den Iran oder auch um den Raketenschild, noch viel weniger. Es ist der alte Unterschied zwischen „Paris“ und „Texas“, europäischer Kompliziertheit und amerikanischem Unilateralismus.

Die IAEO-Sitzung diese Woche bot auch dafür anschaulichen Unterricht: Nachrichtenagenturen zitierten einen „Diplomaten“, der als Erster von angeblich abgebrochenen Gesprächen zwischen einem hohen Vertreter der EU und Teherans am Montag in Wien zu berichten wusste und sie als „Fehlschlag“ beschrieb. Die Quelle soll ein US-Diplomat gewesen sein, der offensichtlich bemüht war, europäische Versuche für eine Lösung des Atomstreits kleinzureden. EU-Diplomaten nannte später die vier Stunden dauernden Gespräche „konstruktiv“.

Bleibt die Frage, was dann der „Osten“ heute darstellt: eine wenig frequentierbare Parallelwelt vielleicht, in der Russland mit Staaten wie Burma, Nordkorea, Iran, Sudan oder Venezuela Politik betreibt. (DER STANDARD, Printausgabe, 16./17.6.2007)