Die alte Regierung hat wohl nicht zuletzt deshalb die Wahl verloren und wurde abgelöst, weil sie sich zu keinen substanziellen Reformen mehr durchringen konnte: Pensionsreform, Reform des Gesundheitswesens, Anpassung des Sozialsystems an den neuen Wohlstand breiter Kreise und die neue Armut, Anpassung der Verwaltungsstrukturen an die durch den EU-Beitritt verringerte Kompetenz der nationalen Behörden, der Regulierung an die Informationsgesellschaft, alles das und noch viel mehr erfolgte - wenn überhaupt - bestenfalls in völlig unzureichenden Trippelschritten.

Wo es aber zu Reformen kam, waren diese falsch. Musterbeispiel ist das gerade auch von den derzeitigen Regierungsparteien forcierte "Wahlzuckerl"-Paket, das Österreich in der Budgetsanierung weit hinter die EU-Partner zurückwarf. Der Reformstau ist nun überwunden; ganz im Gegenteil: Eine Reformeuphorie stellt derzeit alles infrage. Das ist nicht schlecht - die Volkswirte bezeichnen diesen Ansatz als "zero budgeting", als Null-budgetierung: Man fragt bei jeder Ausgabe, ob sie auch dann für notwendig befunden und getätigt worden wäre, wenn es sie bisher nicht gegeben hätte. Üblicherweise überfordert die Multidimensionalität einer konsequenten Nullbudgetierung Politiker wie Verwaltung; es gilt unzählige Aspekte zu bedenken und unzählige Nebenwirkungen zu berücksichtigen.

Alles wird auf eine einzige Frage reduziert

Vor diesem Problem stehen auch die derzeitigen Refor-mer in Österreich. Allerdings bemüht man sich hierzulande nicht einmal, die Vielfalt der Aspekte auch bloß anzudenken - man reduziert alles auf die Beseitigung des einen Problems, an dessen Entstehen man durch das "Wahlzuckerl"-Paket selbst maßgeblich beteiligt war, des Budgetdefizits; ja noch mehr: Es geht den Reformern nicht einmal um die Probleme des Staatshaushalts als solche, sondern um das Budgetdefizit der nächsten zwei bis drei Jahre, und zwar in der - nicht unproblematischen - Maastricht-Formulierung.

Im Folgenden ein paar Illustrationen zu dieser Eindimensionalität:

O Das unreflektierte Budgetziel. Dass die Budgetdefizite der meisten europäischen Staaten die längste Zeit viel zu hoch waren, ist so gut wie unbestritten; schon vor Jahrzehnten besagte die so genannte Seidel-Formel, dass das österreichische Budgetdefizit zweieinhalb Prozent des Bruttonationalprodukts nicht überschreiten sollte.

Als grobe Richtschnur reicht das - wie auch Maastricht -, um Exzesse zu vermeiden; für gute Politik ist es zu grob.

Genauere Überlegungen - von Domar schon in den Vierzigerjahren theoretisch erarbeitet und in den Achtziger-jahren von amerikanischen Ökonomen verfeinert - zeigen, dass vor allem die volkswirtschaftliche Wachstumsrate und der Zinssatz das zulässige Budgetdefizit bestimmen; weiters kommt es auch auf die Verwendung der Staatsausgaben an: Beamtengehälter, Pensionen oder Verwaltungsaufwand durch Verschuldung zu finanzieren führt zwangsläufig in die Katastrophe; doch wenn Hochleistungsschienennetze oder Spitäler gebaut, Umweltschutzmaßnahmen oder Forschungsausgaben finanziert werden?

Warum muss die gegenwärtige Generation diese Investitionen zur Gänze aus ihren Steuern bezahlen, wo diese doch auch späteren Generationen nützen? Warum kann ein privates Unternehmen seine Investitionen zum Teil mittels Krediten - also durch Verschuldung - finanzieren (Fremdfinanzierung), nicht aber der Staat? Viele Staaten binden daher das zulässige Budgetdefizit an die Höhe der staatlichen Investitionen.

Wenn die gegenwärtige Regierung in einer plötzlichen Entscheidung, die öffentlich nie diskutiert wurde, plötzlich ein "Nulldefizit" verordnet, also eine volle Selbstfinanzierung aller staatlichen Investitionen, zeugt das von unreflektierten, eindimensionalen Entscheidungen, die eher mit Argumenten aus dem Bereich des Marketing als der Volkswirtschaft oder der Staatspolitik zu erklären sein dürften.

O Die budgetorientierten Blitzreformen. Die so gut wie ausschließliche Orientierung an kurzfristigen Budgetzielen prägt auch die meisten anderen Reformprojekte der Regierung. Die Pensionsreform etwa ist sowohl kurz- wie langfristig falsch: Sie ist kurzfristig falsch, weil sie unnotwendig rasch in die Lebensplanung der davon Betroffenen eingreift; und sie ist langfristig falsch, weil keineswegs aus-reichend.

Ministerin Sickl hatte zweifellos Recht, wenn sie das gemeint haben sollte, was sie zu dementieren gezwungen war, dass nämlich eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters unvermeidlich sein werde - nicht heute und nicht unbe-dingt morgen, aber doch so frühzeitig, dass sehr viele der heute Lebenden davon betroffen sein werden; sie sollten sich rechtzeitig darauf einstellen können.

Eine ausgewogene Pensionsreform, die über Jahrzehnte hält und nicht alle fünf Jahre verschärft werden muss, bedarf ordentlicher Vorbereitung; die gegenwärtige ist überwiegend an der kurzfristigen Budgetsanierung orientiert. Sie kann keine Sicherheit schaffen, weil die Notwendigkeit der nächsten Reform in spätestens zehn, eher schon in fünf Jahren offensichtlich ist.

Ähnliches gilt für die Wohnbaureform. Ein "Experte" - nicht unbedingt auf dem Gebiet des Wohnbaus - hat festgestellt, dass eine Halbierung der diesbezüglichen Ausgaben möglich sei, und ein Einsparungsziel von 15 Milliarden Schilling vorgegeben (dass er dabei die falsche Zahl erwischte und die Hälfte bloß zwölf Milliarden ausmacht, spricht Bände). Tatsächlich bedarf die Wohnbauförderung einer Reform, weil derzeit offensichtlich über den Bedarf hinaus gefördert und gebaut wird und detaillierte Studien zeigen, dass die Wohnbauförderung primär den mittleren und höheren Einkommensschichten zugute kommt; für die Ärmeren sind Wohnungen kaum finanzierbar.

Es bedarf daher unzweifelhaft einer Umstellung von der Objektförderung, der Förderung des Wohnungsbaus als solchem, zur Subjektförderung, der Förderung derjenigen, die sich eine "entsprechende" Wohnung nicht leisten können.

Die Kriterien dafür bedürfen kritischer Diskussion - erst nach deren Abschluss lässt sich das Einsparungspotenzial seriös ermitteln. "Hausnummern" wie 15 Milliarden Schilling Einsparungspotenzial enthüllen die Eindimensionalität der Reformvorschläge: kurzfristige Einsparung von Budgetmitteln, nicht Wohnbaureform.

Die Zahl der Beispiele ließe sich beliebig verlängern: Keine Vorstellung davon, wo und wie die Verwaltung reformiert werden soll, aber die Zahl von 14.000 eingesparten Beamten steht schon fest - Budgeteinsparung statt Verwaltungsreform. Der Zeitplan für die Privatisierung wird durch die Budgeterfordernisse bestimmt: Die Telekom muss verkauft werden, auch wenn sie sich mitten in einer Sanierungsphase befindet und die Eigentümer bisher nicht einmal einen Business-Plan zustande gebracht haben - die Verkaufserlöse werden das erbarmungslos spiegeln!

Jede Überlegung fehlt auch im Bereich der Industrie, wie man trotz Privatisierung dispositive Funktionen und höchstwertige Arbeitsplätze vor der Abwanderung in ausländische Konzernzentralen bewahren könnte.

Notenbankreserven werden in das Schuldenabbauprogramm mit einbezogen, obwohl ihre Verwendung bloß zum Teil im Entscheidungsbereich Österreichs liegt und die Notenbank höhere Zinserträge erzielt, als die Staatsschuldenverwaltung an Zinsaufwendungen leisten muss (was nebenbei für die Effizienz beider spricht).

Langfristige Reformen u n d kurzfristig Sparen

Es geht den "Reformern" immer um dasselbe: rasches Erreichen des keineswegs gut begründeten Ziels "Nulldefizit", koste es was es wolle! Echte Reformen und kurzfristige Einsparungsziele widersprechen einander in den meisten Fällen: Das Sparpotenzial echter Reformen lässt sich fast immer erst langfristig realisieren; "Sparen kostet" (zunächst), beschied die Weizsäcker-Kommission bezüglich der Reform der deutschen Bundeswehr.

Ein Plädoyer für echte Reformen mit längerfristigem Horizont bedeutet keineswegs ein Plädoyer gegen das Ziel einer Verringerung des Budgetdefizits. Wir befinden uns derzeit in einem konjunkturellen Aufschwung, und diese Periode muss zu einer Sanierung des Budgets genutzt werden; in der Vergangenheit wurde stets der Fehler gemacht, dass die konjunkturbedingten Mehreinnahmen zu Mehrausgaben verwendet wurden. Dieser Fehler ist allerdings auch diesmal wieder passiert - und zwar schon vor der Wahl und unter Beteiligung der gegenwärtigen Regierungsparteien.

Es zeugte von Mut und echtem Sparwillen, die falschen Entscheidungen von damals rückgängig zu machen und überdies die vielen kleinen Sparpotenziale zur Budgetsanierung zu nutzen. Damit kann ein zeitlicher Spielraum für echte Reformen und damit auch echte, langfristige Einsparungen gewonnen werden. Es gilt die kurzfristige Budgetsanierung - durch Vermeidung zusätzlicher Ausgaben - und die großen langfristigen Reformen zu entkoppeln. Die gegenwärtige Reformeuphorie erinnert in ihrer eindimensionalen Orientierung an willkürlich gesetzten, kurzfristigen Budgetzielen an des Kaisers neue Kleider.

Gunther Tichy ist Leiter des Instituts für Technikfolgen-Abschätzung an der Akademie der Wissenschaften.