Für Joseph Lapid von der säkularen Shinui-Partei ist der ehemalige Großrabbiner Ovadia Josef ein "alter Narr". Der 81-Jährige habe mit seiner Sabbatpredigt, die Holocaust-Opfer seien wieder geborene Sünder, die zur Erde zurückgeschickt wurden, um für ihre Sünden zu bezahlen, denen einen großen Dienst erwiesen, die den Ruf Adolf Hitlers rehabilitieren wollten. Lapid, selbst Überlebender des Holocaust: "Auf der ganzen Welt wird es nun heißen, ein führender israelischer Rabbiner bestätigt im Grunde, was Hitler sagte: dass die Juden Sünder seien." Hitler sei der Vollstrecker von Gottes Willen. Obwohl er seine Äußerungen zurücknahm, stürzt Josef Israel in ein Dilemma. Denn der in Bagdad Geborene ist der geistige Führer der Shass-Partei, die in der Knesset mit ihren 17 der insgesamt 120 Sitze seit Jahren bei Regierungsbildungen das Zünglein an der Waage ist. So auch jetzt. Obwohl Josef Ministerpräsident Ehud Barak als Mann "ohne Verstand" und die Palästinenser als "Schlangen, für deren Erschaffung Gott sich schäme" bezeichnet hat, bietet Barak der Shass fünf Ministerposten an, um die Regierung und den Friedensprozess mit den Palästinensern zu retten. Mit werbewirksamen Auftritten hat Josef die von ihm 1980 gegründete streng religiöse Shass-Partei zur drittgrößten Fraktion im Parlament gemacht. Sein Rezept: eine Mischung aus Populismus und Sozialpolitik. Shass wendet sich an die Juden orientalischer Abstammung, die sich von den aschkenasischen (europäischen) Juden diskriminiert fühlen. Die Partei schuf ein religiöses Erziehungsmodell. Die Kinder aus ärmlichen Verhältnissen erhalten in Tagesheimen nicht nur warme Mahlzeiten, sondern auch eine kostenlose Erziehung. Außerdem sind sie vom Wehrdienst befreit. Das Resultat: Innerhalb von vier Jahren verdoppelte sich die Zahl der Schüler in diesem religiösen System und somit auch die der Shass-Wähler. Plötzlich pilgerte die gesamte politische Klasse des Landes zu dem mächtigen, bärtigen alten Mann. Sogar US-Botschafter Martin Indyk und der palästinensische Polizeichef Nasser Jussef baten um eine Audienz. Als der streng antireligiöse Erziehungsminister Jossi Sarid sich weigerte, mehr Geld für die Shass-Schulen auszugeben, wetterte Rabbi Josef, Sarid sei gefährlicher als Amalek, der erste große Feind des israelischen Volkes. Dabei genoss Ovadia Josef lange Zeit das Image eines gemäßigten Religionsführers, nachdem er 1972 eine halachische, d. h. theologische Entscheidung veröffentlicht hatte, nach der Gebiete von "Erez Israel" aufgegeben werden könnten, wenn damit jüdisches Leben gerettet werde. Seine Kehrtwendung nach rechts hat bereits vor Beginn der Camp-David-Verhandlungen zum Auszug aus der Koalition geführt. Barak versucht nun zu retten, was noch zu retten ist. (Josef Ertl/D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 9.8. 2000)