Der Schein der beschaulichen Frühlingslandschaft trügt. Denn am Fuße des Zackenbergs auf Grönland beginnt die Schneeschmelze viel früher als noch vor zehn Jahren. Der Tierwelt drohen radikale Umstellungen.

Foto: Toke Høye
Kopenhagen - Sanft streicht der Frühlingswind durch das weitläufige Tal. Die schaukelnden Blumen des Arktischen Klatschmohns leuchten im Sonnenlicht, und auch das Maiglöckchen-Heidekraut hat bereits seine weißen Knospen geöffnet. Insekten summen, im Hintergrund rauscht der Fluss: Es ist eine naturbelassene Landschaft, die sich am Fuße des knapp 1400 Meter hohen Zackenbergs an der Küste Ostgrönlands ausbreitet. Man könnte glauben, hier habe sich seit Urzeiten nichts geändert. Doch der Schein trügt. Das Ökosystem ist im Umbruch, und die Blumenfelder sind der beste Beleg dafür.

Seit 1996 führen dänische Wissenschafter ein intensives Monitoring-Programm im Tal des Zackenbergelven durch. Sie studieren den jährlichen Entwicklungszyklus von Flora und Fauna sowie die Wetterbedingungen und andere Naturereignisse.

In der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Current Biology berichten die Forscher über die erste umfassende Auswertung. Im Ergebnis lässt sich ein beunruhigender Trend erkennen. Der Klimawandel zeigt in dieser Region dramatische Wirkung, der Frühlingsbeginn und die Schneeschmelze finden heutzutage zwei Wochen früher (Anfang Juni) statt als Mitte der Neunziger. Mit weit reichenden Folgen für Pflanzen und Tiere.

Die Aufzeichnungen der Dänen decken vor allem verfrühte Blütezeiten von Kräutern und Zwergsträuchern sowie ein deutlich vorgezogenes Ausschwärmen verschiedener Insektenarten auf. Watvögel wie Alpenstrandläufer, Sanderling und Steinwälzer sind ebenfalls betroffen. Sie beginnen früher mit dem Brüten. "Der Zeitpunkt des Eierlegens ist - zumindest teilweise - mit dem Nahrungsangebot verbunden", erklärt der Biologe Toke Høye im Gespräch mit dem STANDARD.

Je früher und reichlicher der Tisch für die Vögel mit wirbellosem Getier gedeckt ist, desto schneller können sie sich um die Fortpflanzung kümmern. Das scheint sich auch auf die Fruchtbarkeit auszuwirken. Høye: "Frühe Gelege bestehen meist aus drei bis vier Eiern, normalerweise sind es zwei bis drei".

Schnelles Brüten

Der Fortpflanzungserfolg ist damit allerdings nicht unbedingt gesichert. 2005 beobachteten die Forscher zwar schnelles Brüten, doch später nur relativ wenige flugfähige Jungvögel. Zeitweiliger Nahrungsmangel mag eine Ursache gewesen sein. Im Juli hatte Tauwetter in den Bergen nämlich ein extremes Hochwasser im Zackenbergelven ausgelöst. Dies kann die Futtersuche der Vogeleltern in den Feuchtgebieten erschwert haben.

Noch weiß niemand genau, wie sich der verfrühte Frühling und der längere Sommer auf die Ökosysteme Ostgrönlands auswirken werden. Toke Høye und seine Kollegen beobachten starke Populationsschwankungen. "Einige Arten nehmen in Anzahl ab, andere werden häufiger."

Schneehasen zum Beispiel sichten die Forscher heute zehnmal häufiger als vor zehn Jahren, auch die urtümlichen Moschusochsen gehören bisher zu den Günstlingen des Wandels. Beide Spezies profitieren höchstwahrscheinlich vom verstärkten Pflanzenwachstum. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19. 6. 2007)