Am Anfang war das Wort, und das Wort war falsch. Genauer: Es war eine Unterstellung. Am 26. Juli 2000 schrieb Thomas Steinfeld einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel "Bankrott!" und dem Untertitel "Gemeingefährlich: Der Skandal der neuen Rechtschreibung".

Man erwartet also wieder einmal eine Polemik gegen die Rechtschreibreform, und man wird auch nicht enttäuscht: Keine zwei Wörterbücher seien miteinander identisch, Zeitungen und Zeitschriften hätten eigene Orthographien, neue Regeln würden von den Wörterbüchern klammheimlich wieder rückgängig gemacht, die Reform hätte Milliarden (wohl DM) gekostet und dabei nie die Unterstützung der Bevölkerung besessen, und überhaupt: "Sie war das dümmste und überflüssigste Unternehmen in der deutschen Kulturpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg: ein gemeingefährlicher Akt."

Ein Satz macht betroffen

So viel Schlimmes hätte ich der Rechtschreibreform nicht zugetraut, aber derartig heftige Worte sind nicht ungewöhnlich. Doch ein Satz hat mich betroffen gemacht: "Seitdem liegt sie [die Rechtschreibung] in den Händen einer Gruppe von anmaßenden Dilettanten, die ein jedes Scheitern zum Anlass nehmen, um uns tiefer in die Verwirrung zu stürzen." Jetzt muss ich es gestehen: Ich bin einer dieser anmaßenden und wohl auch gemeingefährlichen Dilettanten, und ich habe Herrn Steinfeld oder die Journalisten oder gar die ganze recht schreiben wollende deutschsprachige Welt in die Verwirrung gestürzt.

Ein wenig Schuld kann ich von mir abschieben: Ich gehöre nicht zu den Verfassern des Regelwerks. Ich wurde erst nach der endgültigen Fassung der Reform in die Rechtschreibkommission nominiert. Dort springe ich bei jeder Sitzung über meinen eigenen Schatten, weil ich ein Anhänger der gemäßigten Kleinschreibung bin (sie ist leider Schnee vom vergangenen Jahr) und trete so gut es geht im Rahmen des geltenden Regelwerks für klar nachvollziehbare Regeln ein.

Ich muss aber lesen, dass die Rechtschreibreform "am Ende von den Kultusministern in einem Gewaltstreich gegen die eigenen Experten verhängt wurde, ein einziges Fiasko". Ich hätte also den Kultusministern gegen die Reform geraten? Das wenigstens weiß ich: Das habe ich nicht getan!

Es kommt noch schlimmer. Im Absatz davor ist von einem "internen Bericht" der Kommission "an die deutschen Kultusminister" die Rede, wo sich die Kommission darüber beschwert, dass - und hier zitiere ich eine Passage in Gänsefüßchen, also ein wörtliches Zitat im Text, die Reform "ohne gründlichere Überarbeitung und ohne ausreichende Erfahrungen in Umgang mit den neuen Regeln" durchgesetzt worden sei. Wir hätten die Kultusminister vor unserer eigenen Reform gewarnt. Das darf doch nicht wahr sein!

Es ist auch nicht wahr. Es handelt sich nämlich um eine Textpassage aus dem 2. Bericht der Rechtschreibkommission, wo davon die Rede ist, dass die Kultusminister es ablehnten, "ohne gründlichere Überprüfung und ohne ausreichende Erfahrungen mit den neuen Regeln" auf die Änderungsvorschläge der Kommission einzugehen. Das, was abgelehnt wurde, war also nicht die Reform selbst, sondern die Änderungsvorschläge der Kommission. Aus "Überprüfung" wird "Überarbeitung", nur so kann man den Text zu dieser Falschmeldung machen.

Nicht perfekt, aber besser als früher

Niemand, auch nicht die Mitglieder der Rechtschreibkommission, wird behaupten, das nun gültige Regelwerk sei perfekt. Es ist nur ganz einfach besser als das alte, vielleicht nicht allzu viel besser, aber doch: Wer will tatsächlich zu den alten Rechtschreibfallen wie in bezug, aber mit Bezug und bummeln gehen, aber spazierengehen zurückkehren? Wer will kegelschieben, aber Wache stehen? Wer will (die Schuhe) breit treten, aber (die Absätze) schieftreten? Wer will Auto fahren, aber radfahren? Wie schreibt man: Motorrad fahren oder motorradfahren? Diese und viele andere Ungereimtheiten beseitigt die neue Rechtschreibung. Deshalb lohnt es sich, für die Rechtschreibreform einzutreten. Und deshalb springe ich immer wieder über meinen eigenen Schatten.

Doch die neue Rechtschreibung beseitigt eben nicht alle Ungereimtheiten, und - ganz selten, aber doch - mögen neue entstanden sein. Wenn die Suppe nicht schmeckt, hat nicht immer nur der Koch Schuld: Auch der Wirt kann sie hinterrücks versalzen und verdünnt haben. Er könnte sogar in die Suppe gespuckt haben oder sie dem Gast über den Anzug gegossen haben.

Falschmeldungen richten Schaden an

Der Einfluss der Politiker auf die Rechtschreibreform war, um es vorsichtig zu sagen, nicht immer förderlich. Doch den größten Schaden richten die Falschmeldungen, Unterstellungen, Verdächtigungen und Beleidigungen an, die derzeit in manchen Medien kursieren. Die Reformer werden als finstere Mächte dargestellt, die irgendeine schreckliche Revolution vorbereiten und sich an der Sprache versündigen. Dass Schreibung und Sprache nicht gleich gesetzt werden dürfen, ist offenbar nicht zu vermitteln.

Die Unterstellungen in der FAZ haben freilich gewirkt. Schon am nächsten Tag konnte man in der selben Zeitung vom selben Journalisten lesen, dass die Kultusminister die Einführung der neuen Orthographie "gegen den erklärten Willen der von ihnen selbst bestellten Experten" beschlossen hätten. Die gegenwärtige Diskussion stützt sich auf keine neuen Tatsachen. Sie ist nichts Anderes als die Folge eines Kulturkampfes. Die angestammten konservativen Werte haben heute an Ansehen deutlich verloren.

Die Rechtschreibung ist eine vortreffliche Trägerin symbolischen Kapitals: Mit ihr haben alle zu tun, ihr Erwerb kostet nicht viel, und man kann hier nicht nur mit wissenschaftlichen Argumenten agieren. Man kann diese Zusammenhänge sehr leicht im Internet verfolgen. Ein Beispiel: Von manchen Reformgegnern kommt man zu den Frakturfreaks, Sprachbewahrern und Lieberhabern altdeutscher Monatsnamen, und dort findet man einen Aufsatz über den Verlust der südtiroler Staatsgebiete. Altbekannter elitärer Dünkel macht sich breit: Man will es doch nicht den Volksschülern leichter machen, wie kämen da die Dichter, Schriftsteller und Journalisten dazu ("IM" in Die Presse, 3. 8. 2000, S. 3). Tatsächlich sind die Reformbestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Bereich der Schule gekommen. Aber dieses pädagogisch begründete Ziel hat kaum mehr Geltung.

Vorschläge zur Präzisierung

"Wir wollen keine Reform der Reform" - aber warum darf man etwas, das gar nicht so schlecht ist, nicht noch besser machen? Im Jänner 1998 hat die Rechtschreibkommission einen Bericht verfasst, in dem Vorschläge zur Präzisierung und Weiterentwicklung der Rechtschreibregeln vorgelegt wurden. Dieser Bericht wurde etwa 30 Verbänden aus den deutschsprachigen Ländern zur Verfügung gestellt; im Grund konnten ihn alle haben, die ihn haben wollte. Darin habe ich zusammen mit Karl Blüml einige Neuformulierungen der Regeln für die Getrennt- und Zusammenschreibung zur Diskussion gestellt, die - wie ich glaube - einen Großteil der noch vorhandenen Probleme auf diesem Gebiet beseitigen.

Unterdessen haben wir noch weiter an den Formulierungen gearbeitet, und die Diskussion in der Kommission steht noch aus. Auch für die anderen Rechtschreibbereiche gibt es vernünftige Anpassungsvorschläge.

Was tun in Zeiten der Bedrängnis? Ich habe schon immer Regeln der alten Rechtschreibung, die mir unsinnig vorkamen, einfach nicht beachtet. Ich ignoriere auch die Regeln der neuen Rechtschreibung, die ich für unsinnig halte. Bloß: Ich ignoriere jetzt sehr viel weniger Regeln als früher. Zwei Verstöße gegen die Neuregelung habe ich übrigens hier in diesem Text versteckt, einer kommt in der Überschrift vor. Ich hoffe natürlich, dass sich diese Fälle von Individualanarchie durch die Arbeit der Rechtschreibkommission erübrigen - wenn man sie ohne Kreuzfeuer aus den Bataillonen von Reformgegnern arbeiten lässt.

Ao. Univ.-Prof. Richard Schrodt lehrt am Institut für Germanistik der Uni Wien.