Cover: Hanser
Eigentlich ist man der Sache müde. Seitdem Peter Handke am Grab eines Massenschlächtern salutiert und sich Günter Grass müde und verquast an seinen Reversschmuck mit dem "Doppel-S" erinnert, seitdem hat ein guter abendländischer Brauch für wohl lange Zeit geistige Bettschwere erlangt. Die Schriftsteller, Nachfahren von Auguren und Sehern, wollen allem Anschein nach nicht mehr politische wie moralische Saubermänner sein. Auch wenn die Zahlen derjenigen, die die Einmischungen eines Peter Rühmkorfs oder einer Marlene Streeruwitz überhaupt noch zur Kenntnis nehmen, seit Jahren schon rückläufig sind – wenn sich die Damen und Herren Schöngeister sonst politisch erregten, dann leuchtete da noch was vom späten Ruhm Émile Zolas und dessen hochanständigem J’accuse nach. Vorbei!

Doch was sollten sie einem auch noch erzählen, die Intellektuellen? Dass "immer alles schlimmer würde", "früher alles besser war" und "wir in finsteren Zeiten leben"? Das ist doch nur das, was uns die Stammtischbrüder auch schon sagen; in ungelenkeren Worten zwar, aber deswegen nicht genauso untergangsschwanger. Und so besteht denn auch der erste Reflex erneut in dieser Müdigkeit, liest man, dass einer von den noch lebenden Altvorderen aus Europas Literatenriege ein Buch mit politischen Kolumnen aus den letzten sieben turbulenten Jahren veröffentlicht hat.

Im Krebsgang voran, so heißt dieses Werk aus der Feder des 75-jährigen Bestsellerautors und einstigen Professors für Semiotik an der Universität Bologna, Umberto Eco. Und was liest man da in einem kleinen Text mit der Überschrift "Worte sind Steine"?: "Wirklich, wir leben in finsteren Zeiten. Und das nicht nur wegen der tragischen Dinge, die sich ereignen, sondern auch, weil man, um sie zu verstehen, sehr subtil vorgehen müsste, was jedoch nicht dem herrschenden Zeitgeist entspricht." Na Servus! Da lässt also wieder mal einer das Abendland untergehen; oder steckt die Aufklärung mindestens ins kalten Wasser. Auf jeden Fall klingt es nach Zeitendämmerung - während ein italienischer Intellektueller zur "blauen Stunde" noch einmal bella figura machen will.

Doch Obacht: Umberto Eco wäre nicht der oft gerühmte Querdenker, würde er es bei solch unredlich argumentativem Füllstoff belassen. Für Eco befinden wir uns nicht in einer vorherrschenden Dekadenzbewegung, sondern eigentlich längst im rasenden Stillstand. Seine zentrale These, die sich fast über die gesamten 320 Seiten des Buches zieht: Alles wird schlimmer; was aber nicht heißt, dass es je besser gewesen wäre!

Im Gegenteil: Das Schlimme besteht heute gerade darin, dass sich die Gegenwart immer mehr den längst vergangenen Zeiten anpasst. Egal ob unsere neuen Kriege, die zunehmend wie alte Kreuzzüge aussehen, unsere postmodernen Regierungen, die sich wie zentralistische Monarchien ausnehmen – als Italiener zielt der Autor hier besonders auf die zurückliegende Amtszeit Berlusconis – oder die allerorten ausgerufene "neue Religiosität", die für Eco spätestens seit dem Da Vinci Code nur ein Sammelsurium aus sakralem Humbug und postmoderner Alchemie ist. Kaum ein Gebiet in dieser so fortschrittlich erscheinenden Welt, auf welchem es nicht wie von gestern aussieht.

Seit über zwanzig Jahren schon mäkelt Umberto Eco mit stets einem zwinkernden Auge auf diese Weise an der Welt herum. So lange nämlich ist es her, dass im italienischen Nachrichtenmagazin L’espresso seine Kolumne La bustina di Minerva zum ersten Mal erschienen ist. Geändert hat sich seither nichts. "Wenn Worte ein Gewicht hätten", so spottet er an einer Stelle einmal selbstironisch, "dann müsste die Welt zwar nicht von Philosophen regiert werden, aber zumindest von Leuten, die bessere Kenntnisse in Geschichte und Geografie besäßen". Doch an Allgemeinbildung, da lassen es die Regierenden zuweilen mangeln.

Beispiel George W. Bush: Hätten er und seine Oberkommandierenden vor dem Einmarsch in den Irak nur einmal die Märchen aus Tausendundeine Nacht studiert, dann hätten sie Saddams kleine Lügengeschichtchen sicher besser zu verstehen gewusst. Letztlich nämlich, so glaubt Eco, glich Saddams Methode jener der Scheherazade, die ihrem Herren jede Nacht ein anderes Märchen auftischte, nur um auf diese Weise noch einmal ihren Kopf aus der Schlinge ziehen zu können.

Hinter solch vergnügten Bonmots steckt tiefster Ernst. Worum es Eco geht, das ist das Aufweisen von Wissenslücken. Der Kampf gegen den gegenwärtigen Dschihadismus etwa gleicht immer mehr der Methode "erst schießen, dann fragen". Der Westen kann zwar in arabischen Ländern intervenieren, begreifen von dieser Weltgegend aber will er kaum etwas: "Sage jetzt keiner, wer sich im Krieg befinde, könne nicht auf die Kulturanthropologie hören. Rom sah sich von den Germanen bedroht, aber es brauchte eines Tacitus, der ihm half, sie zu verstehen".

Doch in Zeiten von Panik und Terror, da wird eben alles gerne durcheinandergewürfelt. Das gilt etwa für die Differenz zwischen den Worten erklären, begreifen, rechtfertigen und teilen. Wenn heute nämlich einer sagt, er würde bin Laden in seinen Motiven begreifen, dann hieße das laut Eco für nicht wenige, er würde bereits seinen krankhaften Geist mit diesem teilen. Unter solch überspannten Rahmenbedingungen sei es nahezu unmöglich geworden, in der gegenwärtigen Welt noch durchzublicken. "Solange wir nicht wieder in eine Geistesverfassung zurückgekehrt sind, die uns erlaubt und ermutigt, solche Unterscheidungen zu treffen", so Ecos Fazit, "werden wir wie bin Laden sein, so wie er uns haben will".

Vielleicht wäre es also doch ein Vorteil, wenn sich gelegentlich einer von den bejahrteren Schriftstellern anschickte, uns den politischen Alltag zu erklären. Nicht dass sie von Haus aus dazu berufen wären – keiner will mehr Philosophen krönen. In Zeiten von Pisa jedoch könnte es nicht verkehrt sein, wenn da mal ab und an einer käme – einer wie Eco, einer, der tatsächlich noch "bessere Kenntnisse in Geschichte und Geografie" besitzt. (Ralf Hanselle, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 23./24.06.2007)