Der Alltag in Gaza ist noch nicht wieder eingekehrt. Die Leute stehen im Bann von Verlust und Verunsicherung, sie hamstern und bunkern sich ein, sie haben Angst vor dem, was als Nächstes kommen könnte, Angst, dass Israel den Strom abschalten, das Wasser, die medizinische Versorgung, die Lebensmittel- und Benzinversorgung blockieren könnte.

Nur ganz wenige Regierungsangestellte gehen zur Arbeit. Gestern ging eine ganze Gruppe von Beamten des Finanzministeriums um acht ins Büro, aber um zehn wieder heim. Sie erklärten: "Wir kennen uns nicht aus. Wir wissen nicht, welcher Regierung wir folgen sollen, der im Westjordanland oder der in Gaza."

Alle haben Familien. Alle haben Schulden. Alle haben unter dem gelitten, was als US-Wirtschaftsembargo gesehen wurde, verhängt seit den Wahlen vom Jänner 2006 gegen alle Regierungsangestellten, mit dem Zweck, die Hamas zu unterminieren. Sie alle erwarten, dass die schwärzesten Tage ihres Lebens vor ihnen liegen. Sie sprechen über ihre geliebten Kinder.

Auch die Polizisten sind verwirrt. Eine Regierung im Westjordanland fordert sie auf, nicht mit der Hamas zusammenzuarbeiten, und die Hamas in Gaza befiehlt ihnen, die Arbeit wieder aufzunehmen. Ein Polizist sagt: "Ich werde jetzt nicht in den Dienst gehen. Ich würde mich gedemütigt fühlen. Abbas hat uns gesagt, dass wir zu Hause bleiben sollen und dass er uns die Gehälter schickt." Ein anderer Angehöriger der Sicherheitskräfte wird zu Hause versteckt. "Wir fürchten, dass die Kassam-Milizen (bewaffneter Arm der Hamas) ihm die Knie zerschießen", sagt sein Bruder.

Die Moderaten, die Unabhängigen und die schweigende Mehrheit haben Angst - und das Gefühl, dass Fatah, Hamas, Israel und die USA gemeinsam die Verantwortung dafür tragen, was ihnen gerade passiert.

Die Fatah wird dafür verantwortlich gemacht, sich nicht auf innere Reformen konzentriert zu haben, selbst nach dem Wahlsieg der Hamas. Die Moderaten beschuldigen die Hamas eines zu grausamen Staatsstreichs gegen die palästinensische Regierung. Ja, sie stimmen mit der Hamas überein, dass einige Fatah-Leute korrupt sind, Gesetzlosigkeit verursacht und der Hamas keine Möglichkeit gegeben haben, zu regieren und das Alltagsleben der Palästinenser zu verbessern. Aber die Leute finden es schwierig, das Töten von Palästinensern durch Palästinenser zu rechtfertigen.

Genauso schockierend war es, das Bild der "Freiheitskämpfer" - der Leute, die gegen die israelische Besetzung kämpfen - durch das Bild der Plünderer zu ersetzen, derselben Miliz, die jetzt öffentliches Eigentum stiehlt. Und die Brutalität, mit der die Hamas mit all jenen umging, die sich während der Kämpfe ergaben, war ebenso erschütternd. Sie hat die Stimmen der Kritiker verstummen lassen.

Die Mitglieder der Kassam-Milizen und ihre Familienangehörigen sind derzeit die einzigen glücklichen Menschen im Gazastreifen. Zum ersten Mal können sie sich frei bewegen. Sie fahren Autos, die Präsident Abbas und den Fatah-Führungskräften gehört haben, Autos, die ihrer Meinung nach Geschenke der USA sind.

Auf dem Gelände der Sicherheitskräfte sind dutzende Kassam-Milizionärsfamilien. Sie beten, lächeln, begrüßen ihre Freunde, um ihnen den Ort zu zeigen, den sie früher gehasst haben. Ein Mann präsentiert die Zelle, in der er von palästinensischen Sicherheitskräften gefoltert worden ist. Erst 23 Jahre alt, behauptet er, während der zweiten Intifada im Jahr 2000 den Kassam-Milizen beigetreten zu sein. Weil "Hamas von der Moschee kommt. Sie ist rein. Die Hamas hört mir zu. Die Hamas sorgt für meine Familie."

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Taghreed El-Khodary ist Journalistin in Gaza-Stadt.

(Taghreed El-Khodary* aus Gaza-Stadt/DER STANDARD, Printausgabe, 25.6.2007)