Zum ersten Mal seit fünf Jahren ist die Gesamtzahl der Flüchtlinge wieder gestiegen, meldet das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR). Mehr als die Hälfte der 40 Millionen sind eigentlich "Vertriebene", IDPs (Internally Displaced Persons), Menschen also, die innerhalb ihres Landes vor Gewalt fliehen. In beiden Fällen, bei Flüchtlingen und bei Vertriebenen, hat der Irak die Statistik grausam nach oben gedrückt, zwei Millionen sind innerhalb des Irak auf der Flucht, zwei Millionen im Ausland.

In Europa spürt man den Ansturm, geografisch logisch, besonders im Osten. In Bulgarien haben die Iraker die Asylwerber aus Afghanistan, bisher die stärkste Gruppe, nun abgelöst, erzählt ein Teilnehmer des 11. Europäischen COI-Seminar, das soeben, vom Österreichischen Roten Kreuz organisiert, in Wien stattfand.

COI steht für "Country of Origin Information", Ursprungsland-Information, also über das Land, aus dem ein Flüchtling stammt. In Österreich ist das "Accord" (Austrian Center for Country of Origin and Asylum Research and Documentation) mit der Sammlung der Expertise befasst, die bei Asylentscheidungen helfen soll.

Man sollte meinen, dass im Fall des Irak die Dinge ziemlich klar liegen. Die Liste der gefährdeten Gruppen, der nicht staatlichen und semistaatlichen Akteure, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, die Liste der möglichen Verfolgungsgründe: Alles scheint nahezulegen, dass Iraker und Irakerinnen quasi pauschal als schutzbedürftig anerkannt werden müssten, sei es durch Gewährung von Flüchtlingsstatus, Asyl oder zumindest vorübergehender Schutz- und Aufenthaltsrechte.

Die befassten humanitären Organisationen sehen das auch so. Der ECRE (European Council on Refugees and Exiles) gab im April neue Richtlinien für die Behandlung von Irak-Flüchtlingen heraus, als dringende Empfehlung an die EU-Mitgliedsstaaten, die die Iraker sehr unterschiedlich behandeln. Laut ECRE ist in der EU 2007 mit einer Verdopplung der irakischen Asylanträge zu rechnen.

Bekanntlich, und aus einleuchtenden, wenn auch diskutablen Gründen, tun sich besonders die USA damit schwer, die Notwendigkeit anzuerkennen, dass es heute nicht weniger, sondern mehr Fluchtgründe für Iraker gibt als zu Saddam Husseins Zeiten. Der zweitgrößte Truppensteller im Irak, Großbritannien, ist um nichts besser, zumindest gilt das für 2005, wo es 1675 von 1835 Anträgen ablehnte. Im Vergleich dazu: Schweden behandelte 2006 80 Prozent der irakischen Asylanträge positiv, bei einer Zahl von 9000 (in Schweden gibt es traditionell eine große irakische Gemeinschaft, deshalb ziehen viele zu). Österreich liegt mit 74 Prozent Anerkennungsquote ehrbar, aber nur wenige Iraker bitten hier um Aufenthalt.

Im irakischen Fall wird meist unterschieden zwischen Flüchtlingen aus Zentral- und Südirak und denen aus dem Nordirak, wo man sich die Fluchtgründe näher ansieht - wobei aber die Zustände auch nur im Vergleich zum Restirak so paradiesisch aussehen. Die bessere Sicherheitssituation im Norden führt jedoch dazu, dass manche Länder, um irakische Flüchtlinge abzuwimmeln, auf die "Internal Protection Alternative" (IPA) oder Interne Fluchtalternativen (IFA) verweisen, sprich: Anstatt im Ausland könnten Flüchtlinge aus Zentrum und Süden ja im Nordirak bessere Zeiten abwarten.

Tatsächlich hat der Flüchtlingsstrom aus dem arabischen Irak in die Kurdengebiete 2006 intensiv eingesetzt, und arabische Iraker aus Berufsgruppen, die man brauchen konnte, waren auch meist willkommen. Aber die Absorptionskapazität hat ihre Grenzen, und die Belastung der Infrastruktur ist groß.

Dazu kommt hohes politisches Konfliktpotenzial: Die Kurden haben kein Interesse daran, dass die Demografie ihrer Gebiete auf den Kopf gestellt wird, und außerdem besteht die ständige Angst, sich mit den Arabern ihre Konflikte zu importieren. Heute bekommen Araber nur Aufenthaltsrecht, wenn sie einen "Sponsor" haben. Nur "legalisiert" haben sie auch Zugang zu Dienstleistungen, wie etwa die staatlichen Lebensmittelrationen, auf die die meisten angewiesen sind. Das gilt auch für die IDPs in nicht kurdischen Provinzen. "Interne Fluchtalternativen" im Irak sind demnach nichts als eine zynische Konstruktion. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.6.2007)