Milica Stojkov lebt allein im Fünfzehnten. "Malen ist meine Therapie", sagt die 57-Jährige

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Ayse Süren kann den Tod ihres Mannes nur schwer verkraften. Auf das wöchentliche Malen, Handarbeiten und Tratschen mit den anderen Frauen freut sie sich jedes Mal: "Hier kann ich mich öffnen"

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In der "Beratung am Eck" gibt es Infos zu diversen Themen, die mit Alter und Krankheit zu tun haben. Einmal im Monat findet hier eine eigene Gesprächsgruppe zum Thema Gesundheitsförderung für türkische Frauen statt

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Milica Stojkov sitzt am Tisch und wartet auf das Interview. Die Sozialarbeiterin schaut bei der Tür herein: "Ich mache bosnischen Kaffee, wer will?" "Ich", sagt die Serbin. Was "bosnischer Kaffee" sei? "Das ist so wie türkischer Kaffee." Ayse Süner möchte auch eine Tasse. Die 57-Jährige mit dem ruhigen, freundlichen Ton in Augen und Stimme kam 1971 aus der nordwesttürkischen Provinz Sakarya nach Wien und wollte wie Stojkov nicht für immer hier bleiben. Doch die Wirtschaft brauchte ihre Arbeitskraft, und sie brauchte Geld, und irgendwann war es zu spät für eine Rückkehr: "Ich habe unten niemanden mehr", sagt Stojkov. Keine Familie? "Meine Familie ist hier", sagt die Frau und zeigt in die kaffeetrinkende Runde.

 

Ärmster Bezirk

Man sitzt plaudernd am Tisch in der "Beratung am Eck", mitten im Parade-"Ausländerbezirk" Rudolfsheim-Fünfhaus. Elisabeth Ettmann, Leiterin des Sozialarbeiterinnen-Teams der Beratungsstelle, kennt diesen Teil der Stadt ganz gut. Und es gibt etwas, was ihr missfällt: "Der Fünfzehnte ist der ärmste Bezirk Wiens." Anstatt diese Armut, die Österreicher und Zugewanderte gleichermaßen betrifft, zum Thema zu machen, werde aber immer über "die Ausländer" geredet.

Im ebenerdig gelegenen Beratungszentrum spüren die KlientInnen - ÖsterreicherInnen und Zugewanderte -, dass sie etwas gemeinsam haben: Sie sind alle nicht mehr die Jüngsten. Die zuverlässig auftretenden Nebenwirkungen des Alters, die die Öffentlichkeit gerne verdrängt, kennen sie so gut wie ihre handgestrickten Westentaschen: Einsamkeit, Krankheit, die Angst vor der Hilflosigkeit und dem Vergessenwerden. Wir schreiben das Europäische Jahr der Chancengleichheit - doch Stojkov, Süner und ihre Freundinnen sind gleich dreifach benachteiligt: Als Frauen, als Migrantinnen, als ältere Menschen.

Trost und Rat

In der Beratungsstelle des "Beratungszentrums Pflege und Betreuung zu Hause", die vom Fonds Soziales Wien finanziert wird, finden ältere Bewohnerinnen der Bezirke 6, 7, 14 und 15 Rat in Fachfragen und Trost in Seelendingen. SeniorenberaterInnen schicken ihre Anträge an die Pensionsversicherung, gehen mit zum Termin bei "Wiener Wohnen", begleiten zum Arzt. Die SozialarbeiterInnen seien hier, "um die Menschen landen zu lassen", erklärt Ettmann ihren Job. "Die Menschen erleben oft, dass sie abblitzen" - weil man "nicht zuständig" ist, weil sie ein unlösbares Problem haben oder weil BeamtInnen selbst unter Zeitdruck stehen. Darum gehe es hier erst einmal darum, den älteren Menschen zuzuhören, sagt Ettmann. Zusätzlich gebe es wöchentliche Treffs, wo die KlientInnen sich austauschen und Kontakte pflegen können.

Abgenützt

Auf die Frage nach ihrem Gesundheitszustand sagt Stojkov: "Tutto kaputto". Frau Süner geht es ähnlich. Jahrzehnte körperlicher Arbeit haben Gelenke und Organe ruiniert, die psychische Belastung schlug ihr aufs Herz. Als Süner in den Siebzigerjahren nach Österreich kam, musste sie ihr neun Monate altes Baby zurücklassen. Ihr Mann kam ein halbes Jahr später nach - der Sohn erst acht Jahre später: "Wir waren sehr jung und sehr arm", erklärt Süner. "Wir mussten beide arbeiten und kannten hier niemanden, der auf das Kind hätte aufpassen können". Auch Milica Stojkov kam alleine aus der Vojvodina, vor 34 Jahren. Sie fing an, im Wiener Rathauspark zu jäten, arbeitete dann als Küchenhilfe und in einer Reinigungsfirma. Dort wurde sie später in eine verantwortungsvollere Position erhoben. 28 Jahre lang schuftete Stojkov in Österreich. Heute bezieht sie 200 Euro Pension - brutto.

Keine Pension

So ähnlich die Probleme zwar sind, die hier Geborene und Zugewanderte im Alter mit sich herumschleppen: Materielle Sorgen seien ein besonders "typisch migrantisches" Problem, erzählt Ettmann - und schildert den Fall einer Klientin, die nach 34 Erwerbsjahren keinen Pensionsanspruch hat: Sie hatte Vollzeit gearbeitet, war aber entgegen den Zusicherungen ihres Chefs 20 Jahre lang nicht bei der Pensionsversicherung gemeldet. Auch Milica Stojkov ist ein Opfer solcher "Sozial-Sparefrohs": "Ein Arbeitgeber hat mich immer nur dann angestellt, wenn ich die Bestätigung für die Verlängerung der Arbeitsbewilligung brauchte. Kurz danach hat er mich wieder abgemeldet."

Ayse Süners Bild der Welt, sie hat es bei einem der wöchentlichen Kreativ-Treffen gemalt.

Wohnen macht Sorgen

Eine weitere Folge der lebenslangen prekären Arbeitsumstände: Kleine, kalt-feuchte Wohnungen ohne Lift, aber mit Klo und Wasser am Gang, die in jungen Jahren ertragbar sind, werden im Alter, wenn jeder Schritt beschwerlich ist und der Körper krankheitsanfälliger wird, zum ernsten Problem. Auch hier versucht die Beratungsstelle, Lösungen zu finden. Die Betroffenen helfen sich aber auch selbst: Als Stojkov, die nach dem Tod ihrer Tochter depressiv und zuckerkrank wurde, zuhause endgültig "die Decke auf den Schädel gefallen" ist, regte sie im Beratungszentrum eine Handarbeitsgruppe an. Zehn, elf Frauen diverser Nationalitïäten kommen jede Woche, um gemeinsam zu malen und zu häkeln. Die kreativen Ergebnisse ihrer Treffen sind an den Wänden, Fenstern und sogar auf dem Klo zu bewundern. Die Frauen fühlen sich wohl miteinander: "Ohne Küsschen gehen wir nie nach Hause", lächelt Frau Stojkov.

Kopftuch-Debatte

Dass es auch Konflikte gibt, ist klar: "Auf Unverständnis stößt, dass manche Frauen aus der Türkei ein Kopftuch tragen" sagt Ettmann. Im Lauf der Zeit trug ihre Sozialarbeit aber Früchte: "Jetzt ist es so, dass bei der Kopftuch-Kritik meist andere Frauen kommen und sagen: 'Moment! Das ist ihre Sache!'

Als Frau Stojkov nach Wien kam, sprach sie kein Wort Deutsch. Heute ist sie mehr als zweisprachig: Als sie im Job eine mehrheitlich türkische Putztruppe zu leiten hatte, gingen ihr die Verständigungsprobleme bald auf die Nerven. "Da hab ich mir um 300 Schilling eine Kassette und ein Wörterbuch gekauft und zuhause Türkisch gelernt. Jetzt verstehe ich 80 Prozent." Stojkov lacht: " Auf Türkisch beschimpfen kann mich heute keiner." (Maria Sterkl, derStandard.at, 5.7.2007)