Cover: Eichborn
Dass die Zahl in der Wolle gefärbter Lyrik-Leser stark rückläufig sei, überhaupt die Beschäftigung mit Poesie Fähigkeiten voraussetze, deren Abklingen etwas Unwiderrufliches anhaftet – diese Behauptung gehört zum fixen Inventar eines heiter-achselzuckenden Kulturpessimismus, der es bevorzugt mit frühchristlich inspirierten Überlebenstechniken hält: Lyrik-Leser wandern eben ab in die Katakomben des Betriebs!

Ehe aber die Zahl kompetenter Poesiefreunde annähernd überschlagen werden kann, muss der Bestand des Überlieferungswürdigen gesichert werden. In vorgeblich unmusischen Zeiten reist man besser mit leichtem Gepäck, und sei es, dass man bloß in unterirdische Kavernen hinabsteigt: Dieser auf den ersten Blick einleuchtende Gedanke dürfte auch für das essayistische Projekt Der Lyrik-TÜV Pate gestanden haben. Der in Berlin lebende Poesielabortechniker Steffen Jacobs (39) unternimmt nichts Geringeres, als die deutschsprachige Moderne der vergangenen hundert Jahre einem deutlich ironiegesättigten Eignungstest zu unterziehen: Was aus Gedichtbüchern von Wilhelm Busch, Stefan George, Rainer Maria Rilke oder Josef Weinheber (!) erscheint geeignet, im Kanon unserer poetischen Besitzstände enthalten zu bleiben? Welche Verse verdienen Wertschätzung – und warum klingt so vieles, was einst in Brevieren und Anthologien den ganzen Stolz der Empfindsamen ausmachte, heute abgenutzt, umständlich und verwackelt?

Nun denkt Jacobs, der selbst unverächtliche Verse schreibt und "mit seinen Lieblingsgedichten aus vierhundert Jahren deutscher Literaturgeschichte" auf Vortragsreisen zu gehen pflegt, nicht im Entferntesten daran, über seine eigenen Maßstäbe, die er an Gedichte plaudernd anhält, Rechenschaft zu legen. In Fragen des "Geschmacks" regiert immer noch die kesseste der Schnauzen; und dort, wo sich der Gehalt einer poetischen Lautfolge nicht umstandslos erschließen lassen will, hilft ja noch immer ein geübt-mauliger Blick auf die seelischen Nöte der allesamt vom Schicksal gebeutelten Gedichtverfasser.

Invektiven gegen die Moderne und die so genannte "Avantgarde" findet man in Jacobs’ professoral anmutendem Gedichtvortragsgeblödel zuhauf. Schwerer aber wiegt das doch arg verschmitzte Konzept einer Art Kunstgewerbe-Flugschau: Für jedes Jahrzehnt des abgelaufenen Jahrhunderts muss exakt ein (subjektiv) ausgesuchter Gedichtband herhalten, der für das Leben des jeweiligen Verfassers als Schlüsselwerk einstehen soll. Ein paar Dichternamen sind bereits gefallen – voilà. Wie kommt es aber, dass man unvermeidliche Lyrik-Stars wie Benn, Rühmkorf, Enzensberger oder Gernhardt zwar abgenickt bekommt, Weltpoeten der deutschen Sprache aber wie lästige Störenfriede in halben Sätzen abgefertigt werden? Kostprobe aus Anlass eines Jacobs-Aufsatzes über Hans Magnus Enzensbergers Blindenschrift (1964): "Ernst Jandl hätte ich durchaus gern an dieser Stelle gesehen, wäre sein Debütband laut & luise (1966) nicht dummerweise eines seiner schwächeren Bücher."

Das ist dummerweise nicht nur falsch, sondern – in Anbetracht der Wirkungsgeschichte besagter luise – fahrlässig töricht dahergeredet. Es braucht einen einigermaßen der Poesie-Geschichte Kundigen daher auch nicht verwundern, dass er sich Figuren wie – unsystematisch gesagt – Kurt Schwitters, Hans Arp, H. C. Artmann (!), Reinhard Priessnitz, Friederike Mayröcker oder Paul Wühr eben selbsttätig aus dem Wust der Überlieferung herausklauben muss. Um nur in den Osten zu blicken: Bobrowski, Huchel, Müller (Inge und Heiner), Braun oder Mickel? Pustekuchen. Karl Krolow wird dafür im Vorübergehen erledigt. Wulf Kirsten? Nicht doch. Dass ein stiller Poet wie Harald Hartung eine dreißigseitige Würdigung erfährt, ist schön, verfehlt aber jede Sorgfaltspflicht, die sich ein technischer Überwachungsverein angelegen lassen sein müsste.

Und so kommen wir nolens volens zu den Prüfberichten des Herrn Jacobs – mustergültig schön verpackt im bewährten Design der "Anderen Bibliothek". Das Besteck, mit dessen Hilfe er Gedichte zu zerlegen vorgibt, will nicht recht funkeln: Versen wie solchen oft komplizierten von Stefan George oder Durs Grünbein rückt er bevorzugt alltagsgeeicht zu Leibe. Lyrik muss, so lernen wir von Jacobs, dem Urteil des Common Sense unter allen Umständen standhalten. Hoher Ton? Schon verdächtig. Wer, wie Grünbein in Falten und Fallen (1994) die erfahrene Alltagswelt einem gewiss risikobehafteten Vergleich mit antiken Rede- und Denkmustern aussetzt, muss sich einen "intellektuellen Dünnbrettbohrer" nennen lassen.

So weit, so widrig. Jacobs zeigt sich von Versen vornehmlich dann beeindruckt, wenn sie den Eindruck von Leichtigkeit evozieren: Schweben muss das Wortgut, leicht von der Zunge soll es dem Wiederkäuer gehen. Wo dergleichen Kriterien nicht recht greifen wollen, nimmt Jacobs ein anderes, deutlich problematischeres Besteck zur Hand: Unser Prüfberichter lädt mit Vorliebe zu psychoanalytischen Gabelfrühstücken. Rilke, der hysterische Onanist, war von Mutti weggegeben worden. Kein Wunder, dass er die Sonette an Orpheus in einem Turm verfasst hat – Jacobs’ Zutrauen zu Phallussymbolen aller Art scheint nahezu unbegrenzt.

Wenig verwunderlich daher, dass auch der alte Weinheber-Witz fröhliche Urständ’ feiert. Dass der problematische Kirchstettner bekanntlich ausgiebig dem vergorenen Rebensaft zusprach, nehmen wir nicht eben überrascht zur Kenntnis. Der große Benn, den Jacobs überraschenderweise ungeschoren lässt, sei ein "eiserner Hobbit" gewesen. Warum? War von gedrungener Gestalt, saß mitunter auf Bierbänken, behandelte seine Herzallerliebsten nicht immer nobel und reiste ungern. (Gegenfrage: Reisen manche Hobbits nicht sogar sehr viel?)

Legion ist daher die Anzahl der "narzisstischen Störungen", die Steffen Jacobs dem Versfall so vieler Dichter abgelauscht haben will. Als hätte es, nur so zum Beispiel, die ausladenden Bücher eines Klaus Theweleit nie gegeben, nie die intellektuellen Habitus-Studien eines Helmuth Lethen. Gedichte werden weiterhin geschrieben werden – sogar ohne Anleitung durch Steffen Jacobs gelesen. (Ronald Pohl, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 30.06/01.07.2007)