Tiefe Einblicke in die Bilderenzyklopädie der Mythologie: über irdische und himmlische Charaktere, Männer und Frauen, östliches und westliches Bewusstsein.

Foto: Broos
Ein Spiel über Gegensätze, Schatten und Naturen mit großem Ensemble zu Live-Musik.
* * *
Grandioses Bildertheater, inszenierte Phänomenologien und dramaturgische Herausforderungen: Der Tänzer und Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui, zurzeit einer der angesagtesten Choregrafen, steht für eine ungewöhnlich ausdrucksstarke Tanzsprache in Kombination mit riesigen inhaltlich-thematischen Hintergründen.

Wenn er sich, so wie in Foi (2003), Religion und Glauben widmet und dazu mittelalterliche Gesänge heranzieht, sind Kritiker geneigt, seine bildgewaltige Arbeit mit Brueghel’schen Höllenvisionen zu vergleichen.

Mit Les Ballets C. de la B. bearbeitete er auf furiose Weise das Thema Zeit in seinem Tanztheaterstück Tempus fugit (2004 bei ImPulsTanz). Gerade seine flüchtige Kunst, den Tanz, führte Cherkaoui da eindrucksvoll gegen die rasende Zeit ins Feld. "Die erste Form meines künstlerischen Ausdrucks war nicht Tanz, sondern Malerei", erklärt der Choregraf. Surrealistische Bilder, nahe an der Realität, aber immer auch etwas darüber hinaus zeigend, habe er gemalt, bevor ihm klar wurde, was der Tanz der Malerei voraus hat: "Das Großartige am Tanz ist, dass du weitertanzen musst, um das Bild zu sehen. Außerdem bist du zugleich Stift und Zeichnung. Jedes Stück muss Abend für Abend neu gezeichnet werden."

Für sein aktuelles Bühnenstück hat der als Sohn marokkanischer Einwanderer in Belgien aufgewachsene Cherkaoui das Thema der Mythen aufgegriffen. Die Tänzer repräsentieren transkulturelle, archetypische Charaktere, und der Ort ist definiert als Purgatorium.

Kampf der Kräfte

"Ein Kampf zweier oppositioneller Kräfte wie der Intuition und dem Wissen", sagt Cherkaoui, "kommt in meinen Arbeiten oft vor." So auch in Myth, wo die Charaktere unterteilt sind in irdische und himmlische, weibliche und männliche, in östliches oder westliches Bewusstsein, in Gut oder Böse. Jedem steht sein Schatten zur Seite, seine animalische Natur.

Das große Ensemble von über zwanzig Performern und Live-Musikern schreibt an dem Mythos, der entsteht, während er gezeigt wird. Die kompositorische Technik erinnert an Brueghel und Bosch. Vor dem Zuschauer wird in der großen Bilderenzyklopädie der (vor allem westlichen) Mythen geblättert, deren Archetypen ihnen entsteigen. (Judith Helmer, DER STANDARD/Printausgabe, 10.07.2007)