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Seraffetin Yilmaz in seinem Buchladen nach dem Anschlag.

Foto: Reuters/Fatih Saribas
Cizre ? Es ist ein kaum enden wollender Strom von Autos, der sich von den Bergen in das Grenzstädtchen Cizre am Tigris ergießt. Tausende um tausende Autos, alle mit Postern des verstorbenen Orhan Dogan beklebt, drängen auf allen vier Spuren der vom Militär hervorragend ausgebauten Straße auf den Gendarmerie-Kontrollpunkt vor Cizre zu. Doch die von vielen befürchtete Konfrontation bleibt aus. Das Militär kapituliert vor der schieren Masse und hat wohl auch Anweisung von Oben, es zu keiner Auseinandersetzung kommen zu lassen.

Jubel für Kurdistan

Mahmut S. ist schier aus dem Häuschen. "So eine Demonstration hat Kurdistan noch nicht gesehen", jubelt er. Roj-TV, der PKK-nahe Sender, der von Dänemark aus über Satellit in die Türkei sendet, ist live dabei. Offiziell handelt es sich gar nicht um eine Demonstration, sondern um eine Beerdigung. Aus allen Teilen des Landes sind sie gekommen, um Orhan Dogan das letzte Geleit zu geben. Dogan war einer der vier kurdischen Politiker, die Anfang der 90er-Jahre, damals noch über die Liste der Sozialdemokraten, ins Parlament gekommen waren und dann wegen angeblicher Unterstützung der PKK ausgeschlossen wurden und jahrelang im Gefängnis saßen.

Bisher war die kurdische Regionalpartei DTP immer an der Zehn-Prozent-Hürde, die vor dem Einzug ins Parlament liegt, gescheitert. In diesem Jahr setzt die DTP auf unabhängige Kandidaten. Die Partei selbst nimmt an den Wahlen gar nicht teil. Da man ab 20 Abgeordneten eine Fraktion bilden kann, hofft die DTP, nach den Wahlen erstmals als eigene Kraft im Parlament vertreten zu sein. Davon ist auch Serafettin Yilmaz überzeugt.

Der 45-Jährige ist eine Symbolfigur in der Auseinandersetzung zwischen Kurden und Armee. Am 9. November 2005 detonierte in seinem Buchladen eine Bombe, die zwei Menschen tötete. Die Leute aus den umliegenden Läden stellten die flüchtenden Täter und fanden schnell heraus, dass es sich um zwei Angehörige des Militärgeheimdienstes JITEM und einen kurdischen Informanten handelte.

Seraffetin Yilmaz hat seinen Buchladen mittlerweile in eine Gedenkstätte für diesen Anschlag und die beiden Opfer verwandelt. Vor seinem Laden steht groß angeschlagen: Hier war der Anschlag von Semdinli. Semdinli liegt im letzten, südöstlichen Zipfel der Türkei, da, wo die irakische und iranische Grenze aufeinandertreffen. Selbst am helllichten Tag hallen die Schüsse aus den Bergen, wo das Militär und die PKK sich permanent Gefechte liefern.

Trotzdem findet in Semdinli unverdrossen Wahlkampf statt. Allerdings ist außer dem Lila, in dem die DTP ihre Fähnchen geschmückt hat, kaum etwas zu sehen. Das Büro der regierenden AKP ist zu, und von der linksnationalistischen CHP oder gar der rechtsradikalen MHP ist gar nichts zu sehen. Praktisch alle Honoratioren des Ortes gehören zur DTP, der Buchhändler Seraffetin Yilmaz, der Bürgermeister Hursi Tekin und der Großbauer Mehmet Sahin. Alle glauben, dass am 22. Juli die drei Abgeordneten, die aus der Provinz Hakkari, zu der Semdinli gehört, ins Parlament geschickt werden, Unabhängige der DTP sein werden.

Zu langer Wahlzettel

Von der AKP sind sie enttäuscht, zumal die Regierung in einer der letzten Sitzungen des Parlaments schnell noch das Wahlgesetz zu ihren Ungunsten geändert hat. Bis dahin konnten Unabhängige mit einem eigenen Wahlzettel gewählt werden, nach der Änderung werden sie auf einem einzigen großen Wahlzettel, der mitunter bis zu 80 Zentimeter lang ist, mit aufgeführt.

Insbesondere für die vielen Analphabeten in den kurdischen Dörfern wird es deshalb sehr schwer, auf dem Wahlzettel den richtigen Unabhängigen zu finden. Der Wahlkampf der DTP besteht deshalb vor allem darin, über die Dörfer zu ziehen und den Leuten beizubringen, wie sie ihren Kandidaten auf dem Wahlzettel finden.

Mahmut S. sagt: "Wenn sie uns dieses Mal im Parlament wieder keine Chance geben, wird der Krieg erst richtig losgehen." (jg/DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.7.2007)