C. H. Beck Verlag
Auch in der Welt der Büchermacher und der Intellektuellen. Da gibt es einen großen Publikumsverlag (Suhrkamp), einst der Aufklärung und der gesellschaftskritischen Wirkmacht der "Frankfurter Schule" verpflichtet, der jüngst eine neue Untersäule ins Leben rief, einen "Verlag der Weltreligionen". Da gibt es einen gebildeten, in Kunst und Literatur bewanderten Schriftsteller (Martin Mosebach), der nach seiner Konversion zum Altkatholizismus wortmächtig für die lateinische Messe eintritt – und damit feuilletonistische Debatten losgetreten hat. Da gibt es im nordamerikanischen Buchmarkt ein Segment, das bei den gebundenen Büchern seit Jahren unangefochten an der Spitze liegt, noch vor Belletristik und vor Ratgebern – Religion. Und da gibt es einen Frühjahrsbestseller, die Jesus-Monografie von Papst Benedikt XVI., bei der der Verlag kurzfristig die Startauflage ob der starken Nachfrage auf imposante 150.000 Exemplare erhöhte. Und da gibt es nun neue Bücher von zwei der bedeutendsten Dichter der Gegenwart, von SAID und von Derek Walcott, von denen eines Psalmen überschrieben ist, während das andere, ein Langgedicht, Der verlorene Sohn betitelt ist. Auch in der Lyrik also ein religious turn, ein Besinnen auf Religion, eine Renaissance des Glaubens?

Den 1947 in Teheran geborenen, auf Deutsch schreibenden SAID, der seit 1965 in München lebt und den 1930 auf der Karibikinsel St. Lucia geborenen Walcott, der 1992 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, verbindet vieles, mehr als es den ersten oberflächlichen Anschein hat. Beide sind nicht nur sehr belesene Autoren, sie sind sich auch ihrer grenzgängerischen, randständigen Beobachterposition als Außenseiter äußerst bewusst. Der eine, SAID, ein Flüchtling, der sich an einen neuen Kulturkreis akklimatisieren musste. Der andere, Walcott, mit Zwillingsbruder von der Mutter allein aufgezogen – Walcotts Vater starb ein Jahr nach seiner Geburt –, der bürgerlichen Mittelschicht entstammend, wuchs auf St. Lucia, einem Inselstaat, wo vor allem Patois, eine französische Kreolsprache, verbreitet ist, mit Englisch als Muttersprache auf, hat Europäer und Afrikaner in seinem Stammbaum und gehört zur winzigen methodistischen Kirchengemeinde auf dem zu 90 Prozent römisch-katholischen Karibikinsel. Später studierte er auf Jamaika, lehrte als Poesiedozent an nordamerikanischen Eliteuniversitäten und zählte den Exilrussen Joseph Brodsky sowie den nord-irischen, heute in Dublin lebenden Lyriker Seamus Heaney zu seinen Freunden.

Wie kann ein solch renommierter, weltweit geschätzter Autor aber für sich den Status eines "verlorenen Sohns" reklamieren? Deutlich wird dies in den Meditationen, die Reisen nach Europa und nach Südamerika auslösen, in den Reflexionen übers Alter, über dieses sein "letztes Buch", über die Sprache, verlorene Lieben, tote Freunde und den verstorbenen Zwillingsbruder. Vor allem kreist sein Poem um den Komplex von Heimat, Verlust und Sprache, also um St. Lucia, wo Walcott seit 1999 wieder lebt, und die Mobilisierung eines bildungsgesättigten, die Geschichte der Dichtung wie seines eigenen Lebens hochreflexiv wiedergebenden Idioms in Zeiten einer strikt gegenwartsfixierten Globalisierung. Noch einmal legt Walcott ein großes Langgedicht vor, das vor innerer Spannung und berückendem Bilderreichtum geradezu vibriert. Am Schluss sind sie dann wieder bei ihm, dem angekommenen, lange Zeit verlorenen Sohn, die beiden Vertreter der Elemente, Engel und Delphine. "Die letzten zuerst. / Und stets verläßlich auf dem hellen Rand / der Welt ringsum, der niemals näherkriecht, / obwohl, verlorener Sohn, der Bugkeil auf ihn wies, / am andern Ufer jener Streifen Licht."

Daniel Göske trifft in seiner Übersetzung, bei der man merkt, wie unaufgeregt das Englische gegenüber der substantivreichen deutschen Sprache ist, Walcotts Tonfall ausgesprochen gut, auch wenn dabei das Metrum, der fünfhebige Jambus, verloren geht. Göske hat überdies informative Erläuterungen sowie ein kluges Nachwort beigesteuert, was den Band zu einer sorgfältigen Edition werden lässt.

Und SAID? Und die Psalmen? "Die Psalmen waren", so die Literaturwissenschafter Inka Bach und Helmut Galle, "Lied, Dichtung und Gebet zugleich. Die Art des kultischen Psalmengesanges der alten Hebräer kann heute kaum noch rekonstruiert werden, dennoch müssen wir uns diesen Zusammenhang mit der Musik und dem Gottesdienst vergegenwärtigen, wenn wir die Psalmentexte lesen." Psalmen waren schon immer für Autoren interessant, die sich an Übertragungen wagten, wie Martin Buber 1958 oder der Schriftsteller und promovierte Theologe Arnold Stadler 41 Jahre später.

Beim nicht gläubigen Muslim SAID sind es immer noch Anrufungen, strophischer Gesang. Frei von Elegischem, gereinigt von jedem Pathos und doch melodisch. Schlicht kommen die Zeilen daher, eindringlich und nachdrücklich verdichtet. Hier tritt jemand einem Gott auf gleicher Augenhöhe entgegen: fordernd und nachdenklich, ganz Zeitgenosse und skeptischer, auch surreal verspielter Fragender jenseits der Zeiten. Dabei vergisst SAID, der seine Neuen Psalmen bis auf zwei, drei Ausnahmen stets mit Herr beginnt, die Geschichte nicht, nicht Auschwitz, Halabtsche und Srebrenica, wie es gleich zu Anfang heißt. Auch nicht die Flüchtenden. "und nimm die flüchtlinge auf / weil jede flucht in deinem auge endet / selbst wenn der flüchtende in seiner not dich vergißt / denn nur wer an dir zweifelt / sucht dich". Suchen, Fragen, Sprechen – das zeichnet Poesie aus. Das macht die lang anhaltende Faszination großer Poesie aus und das Faszinosum der Gedichte SAIDs und Derek Walcotts. (Alexander Kluy, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 14./15.07.2007)