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Trauernde und Schaulustige beim Begräbnis des bei der Erstürmung der Roten Moschee getöteten Predigers Abdul Rashid Ghazi in Basti Abdullah. Conrad Schetter vom Zentrum für Entwicklungsforschung in Bonn bescheinigt den Taliban "über ihre Netzwerke sehr wohl auch in den Städten eine große Mobilisierungskraft"; für eine Machtübernahme seien sie jedoch intern zu zersplittert.

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"Die Taliban sind im Grenzgebiet von Pakistan und Afghanistan sehr stark von Stammes-Strukturen durchsetzt, sie zerfallen in Untereinheiten, bekämpfen sich auch untereinander." Es gebe noch einige hundert Kämpfer mit arabischem, usbekischem oder tschetschenischem Hintergrund in der Region, die meisten seien jedoch in den Städten untergetaucht. Zu Anschlägen, wie hier in Karatschi, kam es in den letzten Wochen vermehrt.

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Zur Person:
Conrad Schetter ist Senior Researcher am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn. Er beschäftigt sich insbesondere mit Afghanistan, Pakistan sowie Konfliktforschung.

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Durch Jahrzehnte des Krieges, durch Abwanderung und Gewalt gingen die Stammes-Strukturen der Paschtunen verloren - beziehungsweise wurden sie durch jene des radikalen Taliban-Islam ersetzt. Heute genießt dieser einen hohen Rückhalt in der pakistanisch-afghanischen Grenzregion; der Staat hat dort kaum etwas zu sagen. Umgekehrt haben die Taliban und Paschtunen jedoch hohe Mobilisierungskraft und Kontakte zum Militär. Eine brisante Mischung, erklärt Konfliktforscher Conrad Schetter im derStandard.at- Interview mit Heidi Weinhäupl.

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derStandard.at: Nach der Erstürmung der Roten Moschee kamen Drohungen gegen die Regierung vor allem aus dem Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan. Wie stellt sich die Situation dort dar? Wie ist das Verhältnis dort lebenden Paschtunen zu den Taliban?

Conrad Schetter: In den letzten 20 bis 25 Jahren sind in dieser Grenzregion Stammesstrukturen stark mit religiösen Strukturen verschmolzen – wobei sich sowohl die religiösen als auch die tribalen Strukturen radikalisiert haben. Man kann also sagen, dass gerade in der "Northwestern Frontier Province" eine starke Talibanisierung stattgefunden hat. Wir finden entlang der Grenze viele kleinere Taliban-Emirate, etwa in Süd- und Nord-Waziristan. Der radikale Islam hat in diesen Stammesregionen einen sehr starken Rückhalt.

derStandard.at: Auch in der Bevölkerung?

Schetter: Die alten Stammeseliten in der Region gibt es schlicht nicht mehr: Die Elite ist entweder abgewandert – in die großen Städte oder nach Europa – oder wurde von den Taliban beseitigt. Im Zusammenhang mit dem Krieg in Afghanistan wurde seit den 80er-Jahren eine starke Islamisierungspolitik durchgeführt, um immer wieder neue Kämpfer, neue Mujaheddin für den Kampf gegen die Sowjets zu generieren. In diesem Gebiet finden Sie weit über 1000 Madrasas, also Religionsschulen, in denen ein militanter Islam geschürt wird.

derStandard.at: Inwieweit gibt es Verbindungen zu Al Kaida?

Schetter: Die Taliban sind in diesem Grenzgebiet sehr stark von Stammes-Strukturen durchsetzt, sie zerfallen in Untereinheiten, bekämpfen sich auch untereinander. Man schätzt, dass sich in den Stammesgebieten etwa 200 bis 400 ehemalige arabische Kämpfer aufhalten – zudem gibt es noch etwa 200 bis 300 Usbeken und Tschetschenen. Die meisten Al-Kaida-Mitglieder sind aber mittlerweile vermutlich in den urbanen Molochen wie Karatschi, Rawalpindi oder Lahore untergekommen. Es gibt einige Führer in der Region - etwa der in Afghanistan einflussreiche Jalaluddin Haqqani -, die hervorragende Kontakte zu Al-Kaida-Netzwerken unterhalten und sich darüber finanzieren.

derStandard.at: Der Rat der Örtlichen Taliban in Nord-Waziristan drohte am Sonntag damit, eine Vereinbarung mit der pakistanischen Regierung außer Kraft zu setzen – welche Vereinbarung ist damit gemeint und was steckt dahinter?

Schetter: Vor einem Jahr schloss Pakistan mit den Stämmen und Taliban ein Abkommen, wonach es aus der Region keine kämpferischen Aktivitäten gegen den pakistanischen Staat geben werde. Im Gegenzug sollte sich die Armee aus den Stammesgebieten fernhalten. Dies wurde nun aufgekündigt. Was natürlich auch die Stärke der Taliban zeigt – sie wissen genau, dass die pakistanische Armee, die teilweise mit bis zu 90.000 Mann in den Stammesgebieten stationiert war, keine Möglichkeit haben, die Stammesgebiete zu beherrschen. Die Taliban aber haben über ihre Netzwerke sehr wohl auch in den Städten eine große Mobilisierungskraft.

derStandard.at: Wie kam es zu diesem Abkommen, das ja quasi einer Ohnmachts-Erklärung des pakistanischen Staates gleichkommt?

Schetter: Interessant war, dass sich im September 2006 innerhalb von zwei Tagen beidseits der Grenze – sowohl in Musa Qala in Afghanistan wie in Maidan Shah im pakistanischen Nord-Waziristan – die NATO- bzw. pakistanischen Truppen auf diese Arrangements einließen. Man hat zum einen gemerkt, dass die Taliban in viele Gruppen zerfallen, dass es eben "die Taliban" nicht gibt. Die Truppen wurden daher immer stärker in einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung verstrickt, was man natürlich nicht wollte. Dass ein Krieg gegen die Bevölkerung in der Region nicht zu gewinnen ist, weiß man auch aus dem Afghanistankrieg gegen die Sowjets. Daher ging man hier auf diese Arrangements ein: Wir lassen Euch in Ruhe, wenn Ihr uns in Ruhe lasst. Dazu kommt die heikle Situation in Pakistan.

derStandard.at: Inwieweit ist diese heikel?

Schetter: Es geht hier nicht um "Staat gegen Stamm". Im pakistanischen Staatsapparat, gerade im Geheimdienst, verfügen zum einen die Paschtunen, zum anderen die Islamisten über großen Einfluss. Präsident Musharraf steht eigentlich immer vor dem Problem, die islamistischen Gruppen im Militär bei Laune halten zu müssen, ansonsten steht zu befürchten, dass die Islamisten putschen und die Macht ergreifen.

derStandard.at: Warum konnte sich bisher keine Regierung in den Paschtunen-Gebieten durchsetzen?

Schetter: Hier haben sich bereits die Briten im 19. Jahrhundert eine blutige Nase geholt, ganz zu schweigen von den Mogulen davor. Es gibt eine starke Zersplitterung in Klein- und Kleinststämme; jeder Stamm ist mit dem Nachbarstamm verfeindet. Wer jetzt von außen kommt, muss immer einen Stamm nach dem anderen besiegen – es können keine Verträge über die ganze Region geschlossen werden. Hinzu kommt das traditionelle Ideal vom unerschrockenen Krieger, der sich dem Feind entgegenwirft, wodurch auch unter den britischen Soldaten ein Mythos um die Paschtunen entstand. Zudem ist es eine Region, in der es nicht viel zu holen gibt.

derStandard.at: Wie stellt sich die heutige wirtschaftliche Situation dort dar?

Schetter: Gerade weil der Staat kaum präsent ist, hat sich in den letzten Jahrzehnten eine globalisierte Stammeskultur entwickelt. Es gibt ein riesiges Handelsnetzwerk, das sich vom Persischen Golf bis nach Indien zieht, in dem die Paschtunen zu den wichtigsten Händlern gehören. Was erwirtschaftet wird, fließt oft wieder in die Stammesgebiete zurück, um Stammespolitik betreiben zu können. Gleichzeitig floriert in der Region natürlich der Drogenhandel. Aus den paschtunischen Stammesgebieten in Afghanistan kommen 70 bis 80 Prozent des weltweiten Opiums. Über Pakistan und den Iran wird hier ein reger Schmuggel betrieben. Über diese illegale Wirtschaft wurden dann auch die Städte in dieser Grenzregion zu wahren "Boomtowns". Beispielsweise sind die Bodenpreise in grenznahen Orten wie Khost oder Jalalabad kaum niedriger als in Städten wie Peshawar oder Kabul.

derStandard.at: Wie sind die Paschtunen gesellschaftlich organisiert? Was bedeutet der Begriff "Stamm", der ja oft abwertend gebraucht wird, in diesem Kontext?

Schetter: Anders als in Afrika ist es in der paschtunischen Gesellschaft sehr wichtig, dass man Mitglied eines Stammes ist – das ist also kein negativer Begriff. Nur über eine Stammesvergangenheit, den Urahnen, erfahren die Paschtunen eine Legitimation im Hier und Jetzt. Hinzu kommen starke Ehrvorstellungen, wobei Frauen die Ehre des Mannes verkörpern und dies durch ein angenommenes Fehlverhalten in Frage stellen können – was dann schnell in Akte der Blutrache mündet. An diesem Punkt konnte natürlich ein radikalisierter und teilweise auch pervertierter Islam mit seiner Vorstellung von der Burka, von der Unterdrückung der Frau, anknüpfen. Hier gab es also eine starke Verbindung von einer paschtunischen Tradition mit einem radikalisierten Islam.

derStandard.at: Das heißt, die Burka war zuvor nicht verbreitet?

Schetter: Die Burka ist etwas sehr Neues, ein Kleidungsstück, das erst in den letzten Jahrzehnten Einzug fand. Früher waren die Frauen auf dem Feld auch unverschleiert. Auch heutzutage tragen die Frauen unter den paschtunischen Nomaden ein Kopftuch, aber nie eine Burka – das wäre zu unpraktisch. Aber mittlerweile sind radikaler Islam und Stammesstrukturen dort sehr stark verbunden. Das liegt auch daran, dass durch den langen Krieg viele Stammesstrukturen nicht mehr aufrechterhalten werden konnten und dann sozusagen von religiösen abgelöst wurden, die diese Identitäten aufgreifen konnten.

derStandard.at: Gibt es Initiativen für eine Verbesserung der Stellung der Frauen oder wird all dies dem vorgeblichen Kampf "Moderne gegen Tradition untergeordnet?

Schetter: Der Kampf "Moderne gegen Tradition" spielt eine enorm wichtige Rolle. Dennoch gibt es, gerade unter den pakistanischen Paschtunen, hier auch gewisse Gegenbewegungen. Beispielsweise die "Red-Shirts", eine in den 40er-Jahren entstandene eher sozialdemokratische Bewegung, die sich in Bezug auf friedvollen Widerstand an Mahatma Gandhi anlehnt. Zudem findet man nach wie vor gerade in Pakistan auch viele zivilgesellschaftliche Akteure, die versuchen, in den paschtunischen Gebieten eine Verbesserung der Stellung der Frau zu erreichen. Doch die unglückliche Verbindung des pakistanischen Militärs mit dem Islamismus sorgt dafür, dass die Stammesgebiete sehr abgekapselt bleiben und einen Nährboden für diesen radikalen Islam paschtunischer Prägung bilden.

derStandard.at: Wie verhält sich das Militär nun nach den Ereignissen um die Rote Moschee?

Schetter: Seit September zogen die pakistanischen Truppen aus Süd- und Nord-Warziristan ab, in den anderen "Tribal Areas" sind sie nach wie vor stationiert. Präsent ist die Armee außerdem an den Checkpoints an den Grenzen der Stammesgebiete. Die Ereignisse um die Rote Moschee könnten zu einer neuen Großoffensive führen. Doch ich kann mir das kaum vorstellen: Das Militär verlor alleine in den letzten Jahren 5000 Mann in den "Tribal Areas". Und gleichzeitig sympathisieren viele islamistische Militärs mit der Taliban-Kultur.

derStandard.at: Was halten Sie für das wahrscheinlichste Szenario, wie es in diesem Konflikt weitergeht?

Schetter: Das "Schreckgespenst Taliban" ist untereinander zerstritten – sie haben nicht die Schlagkraft, einen islamistischen pakistanischen Staat aufzubauen. Es gibt jedoch islamistische Parteien, die dazu eher das Potenzial haben. Die Ereignisse um die Rote Moschee können zu einer weiteren Kluft zwischen den Islamisten und der Zivilgesellschaft in Pakistan führen. Entscheidend ist, ob Musharraf das Militär noch so weit unter Kontrolle hat, dass es bei der Stange bleibt oder ob man einen Putsch befürchten muss, bei dem dann Islamisten mit Unterstützung durch das Militär an die Macht kommen könnten. Dabei spielt – für das Selbstverständnis des Militärs – die Kaschmirfrage eine große Rolle.

derStandard.at: Gibt es Anzeichen dafür, dass die staatlichen Strukturen in den Stammesgebieten zunehmen?

Schetter: Musharraf hat mehrfach angekündigt, in den Tribal Areas die staatlichen Strukturen und die Entwicklungshilfe zu verstärken. Vor allem die US-Amerikaner haben reagiert und Gelder zugesagt, mit denen man die ganzen Täler in den Stammesgebieten zuschütten könnte. Es gibt die internationale Forderung, dass sich hier etwas ändern muss, und dafür müssen sich sowohl Pakistan als auch Afghanistan bewegen. Afghanistan muss die Grenze endgültig anerkennen – was es ja noch immer nicht getan hat. Und Pakistan muss sozusagen Staat zeigen in den Provinzen. Der internationale Plan ist, dass Pakistan sehr viel Geld erhält, um Brücken, Straßen, Infrastruktur aufzubauen. Wobei ich da auch sehr pessimistisch bin: Der Staat hat in den Stammesgebieten wirklich nur einen sehr geringen Einfluss und wenn versucht wird, diesen zu verstärken, gerät er sofort auf Konfrontationskurs mit den Stämmen oder eben der Taliban. (Heidi Weinhäupl, derStandard.at, 18. 7. 2007)