"Wir können es uns nicht leisten, dieses Mal zu versagen": Oskanian sieht die kommenden Parlamentswahlen als großen Test für die Demokratie in Armenien.

Foto: Matthias Cremer
Armeniens Außenminister Vartan Oskanian hat bei seinem Besuch in Wien Anfang der Woche Zuversicht verbreitet. Die Gelegenheit zur Lösung des Konflikts mit Aserbaidschan um die mehrheitlich armenische Enklave Karabach sei nun da, sagte er zu Markus Bernath.

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STANDARD: Eine Lösung des Karabach-Konflikts ist jetzt so greifbar wie nie zuvor, haben Sie vor dem Ständigen Rat der OSZE in Wien gesagt. Wie greifbar ist sie wirklich?

Oskanian: Wir stehen nahe vor einer Lösung, weil wir – Armenien und Aserbaidschan – über einen Text verhandeln, der sehr vernünftig ist, und weil wir den richtigen Ausgleich für die verschiedenen Streitpunkte gefunden haben. Dieses Dokument bietet eine wirkliche Gelegenheit, um ein Abkommen zu erreichen. Greifbar ist ein relativer Begriff. Ich sage, wir stehen, verglichen mit früheren Texten, näher an einer Lösung. Aber wir verhandeln immer noch über Prinzipien.

STANDARD: Eines dieser Prinzipien aus aserbaidschanischer Sicht ist die Nutzung des Lachin-Korridors, etwa nach dem Vorschlag: Armenier fahren vormittags, Aserbaidschaner nachmittags. Gehört das zum neuen Dokument?

Oskanian: Nein, der Korridor ist nicht verhandelbar. Er soll freien ungehinderten Zugang zwischen Armenien und Nagorny-Karabach sichern. Der Korridor sollte als Teil von Nagorny-Karabach betrachtet werden. Die aserbaidschanische Seite hat kürzlich versucht, die Idee einer gemeinsamen Nutzung einzuführen. Aber dies stand nie zur Verhandlung. Die internationalen Vermittler haben dieses neue Element auch sofort zurückgewiesen.

STANDARD: Ein früherer armenischer Präsident, Levon Ter-Petrosian, musste zurücktreten, weil er eine Kompromisslösung mit Aserbaidschan aushandeln wollte. Was ist heute so anders?

Oskanian: Er wollte eine schrittweise Lösung aushandeln. Er war bereit, die Gebiete zurückzugeben, die Armenien nun kontrolliert, aber ohne klare Angaben, welcher Art der künftige Status von Nagorny-Karabach sein würde. Das war für die Öffentlichkeit in Armenien unannehmbar. Der Unterschied heute ist, dass alle Aspekte Teil des Abkommens sind, auch wenn die Umsetzung in Phasen erfolgen würde.

STANDARD: Sie suchen nach einer Formel, bei der für die Aserbaidschaner die Statusfrage am Ende entschieden wird und für Armenien das Verfahren bereits zu Beginn feststeht?

Oskanian: Ja, wir müssen eine klare Vorstellung darüber haben, wie die Statusfrage behandelt wird. Das ist das Kernelement des Übereinkommens. Wir reden über ein Referendum, über die Selbstbestimmung der Bewohner von Nagorny-Karabach. Alles andere ist zweitrangig, der Zeitplan für die Umsetzung kann davon verschieden sein.

STANDARD: Wer soll teilnehmen an dem Referendum?Nur die derzeitigen Bewohner von Karabach?

Oskanian: Menschen, die in Nagorny-Karabach vor dem Ausbruch des Konflikts lebten, sollten das Recht haben, an dem Referendum teilzunehmen. Ob sie zum Zeitpunkt der Abstimmung auch wieder zurück im Gebiet sein müssen, gehört zu den Modalitäten, über die später verhandelt werden sollte. STANDARD: Die Nicht-Lösung dieses Konflikts war dem amtierenden Präsidenten und dem Premierminister innenpolitisch nützlich in dem Sinne, dass sie stets eine Gefahr von außen beschworen konnten und sich selbst als Garanten der Stabilität präsentierten. Ist das so?

Oskanian: Nein, absolut nicht. Die Nicht-Lösung dieses Konflikts nutzt niemanden. Wir wollen eine baldmöglichste Lösung, aber eine Lösung, die gerecht und für die Menschen in Nagorny-Karabach annehmbar ist.

STANDARD: Sie werben für Ihre Politik der Komplementariät, für gute Beziehungen zu den USA wie zu Russland und zum Iran. Wenn Sie aber etwa an Russlands Wirtschaftsboykott gegen Georgien denken, der Armenien mindestens eben so schwer trifft, dann bedeutet Komplementarität offenbar nicht, dass jeder auch gleich freundlich zu Armenien ist?

Oskanian: Das ist richtig. Komplementarität bedeutet auch nicht Symmetrie. Komplementarität heißt, was es heißt: Verschiedene Politikfelder ergänzen sich. Wir arbeiten in Sicherheitsfragen mit Russland zusammen, die Russen haben hier Militärbasen, gleichzeitig haben wir breite und tiefe Beziehungen zur Nato. Wir weigern uns, uns für den einen oder den anderen zu entscheiden. Das ist die Idee. Niemand ist gezwungen, eine solche Wahl zu treffen. Das war eine Sache des Kalten Kriegs, und das ist vorbei.

STANDARD: Oppositionspolitik er in Armenien plädieren für einen EU-Beitritt. Würden Sie auch das eine Entscheidung nach dem Muster des Kalten Kriegs nennen?

Oskanian: Der Ruf nach der EU kann kein Selbstzweck sein, wir müssen uns ja erst einmal für einen Beitritt qualifizieren, oder? Wir sind heute nicht an einer Mitgliedschaft interessiert, sondern an dem Beitrittsprozess. Organisieren wir uns erst einmal, entwickeln wir Institutionen, so dass wir qualifiziert sind für einen Beitritt. Wir haben einen weiten Weg vor uns.

STANDARD: Die Türkei hält die Grenzen zu Armenien geschlossen. Nehmen Sie die Schwierigkeiten, die Ankara bei den Beitrittsgesprächen mit der EU hat, mit Genugtuung zu Kenntnis?

Oskanian: Für uns wäre der EU-Beitritt der Türkei kein Problem, ganz im Gegenteil. Armenien wäre der größte Nutznießer, wenn alles nach den Kriterien geht, die die EU gesetzt hat. Es würde bedeuten, dass die Grenze zwischen der Türkei und Armenien offen wäre, dass die armenische Minderheit in der Türkei und ihr Besitz besser geschützt wären, dass türkische Akademiker die Freiheit hätten, über den Genozid zu sprechen, dass die EU-Grenzen an Armenien rücken. Was mehr sollten wir verlangen?

Unsere Sorge ist, dass die Türkei nicht in der Lage ist, sich zu ändern. Sie bewegen sich offensichtlich nicht in diese Richtung. Nicht einmal nach der Ermordung von Hrant Dink haben sie den Strafrechtsparagrafen zur „Beleidigung des Türkentums" geändert. Wir haben auch die Befürchtung, dass die EU Kompromisse in der Türkeifrage macht und das Land aufnimmt, ohne dass es sich vollständig geändert hat. Und dass die Grenze zu Armenien dann immer noch geschlossen sein wird.

STANDARD: Sie erwarten von der EU, dass sie in der Grenzfrage Druck auf die Türkei ausübt?

Oskanian: Absolut. Unsere Hoffnung ist die Europäische Union. Die Kopenhagen-Kriterien legen fest, dass EU-Beitrittskandidaten offene Grenzen haben sollen. Armenien ist dort nicht erwähnt, aber es ist ein Nachbarland der Türkei. Sie müssen also die Grenze öffnen. Die EU sollte diese Frage so früh wie möglich an die Türkei herantragen, damit sich das politische und wirtschaftliche Umfeld in unserer Region verbessert.

STANDARD: Warum fällt es der Türkei so schwer, normale Beziehungen mit Armenien aufzunehmen?

Oskanian: Das fragen wir uns auch. Wir haben keine klare Antwort zu den Motiven der Grenzschließung. Geht es um Aserbaidschan, um Nagorny-Karabach, um etwas anderes? Tatsache ist, dass diese Grenze geschlossen ist und dass es dafür keine Rechtfertigung gibt.

STANDARD: Am 12. Mai sind Parlamentswahlen. Was steht für Armenien auf dem Spiel?

Oskanian: Das ist ein großer Test für Armenien. Wir können es uns nicht leisten, dieses Mal zu versagen. Die letzten Wahlen waren mit einigen Mängeln behaftet. Unser Land ist nun reifer geworden, die Demokratie stärker. Es geht um viel: Ein Parlament wird gewählt, dass durch die Verfassungsänderung gestärkt ist. Es entscheidet nun selbst über den Premierminister und die Regierung. Wir werden erstmals ein wirkliches politisches System der gegenseitigen Kontrolle bekommen.

STANDARD: Eine neue Partei ist aus dem Nichts aufgetaucht, angeführt von dem Milliardär und Ex-Weltmeister im Armdrücken Gagik Tsarukian. Ist das eine viel versprechende Entwicklung für die Demokratie in Armenien?

Oskanian: Ähnliche Phänome gibt es auch in anderen Demokratien, selbst in westlichen Gesellschaften. Offenbar gab es da ein Vakuum, unsere Opposition war in den vergangenen Jahren desorganisiert, die Menschen suchten nach einer neuen politischen Plattform und fanden sie vielleicht in dieser Partei.

STANDARD: Das muss ein ziemlich großes Vakuum sein, denn Tsarukians Partei könnte die stärkste oder zweitstärkste Kraft werden.

Oskanian: Warten wir ab. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.4.2007)