Kurz vor der Entscheidung, die Parlamentswahlen auf 22. Juli vorzuverlegen wurden die Besucher von Istanbul von einigen Fotoplakaten überrascht, auf denen Frauen mit Schnurrbart auf die Passanten herabblickten. Die haarige Aktion geht auf uns zurück – eine Gruppe von Frauen, die sich vorgenommen haben, das Frauenanteil-Problem im Parlament zu lösen. Unser Slogan lautete: „Muss man unbedingt ein Mann sein, um Abgeordneter zu werden?“

Unsere Schnurrbart-Fotografien erregten große Aufmerksamkeit, ist doch damit der breiten Masse zum ersten Mal bewusst geworden, dass es im türkischen Parlament viel zu wenige Frauen gibt – und prompt beeilten sich fast sämtliche Parteien, mehr weibliche Kandidaten auf ihre Wahllisten zu setzen.

Aus der Bahn geworfen

Die Vorverlegung des Urnengangs um vier Monate – nach Intervention der Generalität im Zuge der Auseinandersetzungen um die Präsidentenwahl – hat unser Projekt dann allerdings ziemlich aus der Bahn geworfen und viel weniger Erfolg eingebracht als wir uns das erwartet hatten. Unser Ziel war es ja, mehr Frauen auf die Spitzenplätze der Wahllisten zu bringen – egal von welcher Partei. Aber leider – unsere falschen Bärte haben gegen die echten verloren:

Tatsächlich gibt es im Vergleich zu vergangenen Wahlen zwar mehr Kandidatinnen, aber längst nicht so viele wie wir fordern:

Die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) geht mit 11,27 Prozent und die CHP (Republikanische Volkspartei) mit 9,45 Prozent Frauenanteil in die Wahlen. Und bei der radikal-nationalistischen MHP (Partei für Nationale Bewegung), die voraussichtlich als dritte Kraft ins Parlament kommen wird, kann man die Kandidatinnen an einer Hand abzählen.

Etwa zehn kurdische Frauen von den unabhängigen Kandidaten, die von der DTP (Demokratische Gesellschaftspartei) unterstützt werden, könnten die Statistik zwar noch etwas aufbessern. Insgesamt wird unseren Schätzungen zufolge der Frauenanteil im türkischen Parlament von derzeit 24 bestenfalls auf 50 der 550 Sitze steigen. Um effektive Frauenpolitik machen zu können, wäre aber mindestens ein Drittel der Sitze notwendig.

Millionen Wählerstimmen landen im Müll

Dazu kommt, dass auf Grund des 1983 installierten Wahlsystems wieder Millionen von Wählerstimmen im Müll landen werden. Meine Stimme war auch immer darunter – weshalb ich mir bei jeder Wahl unwillkürlich die Frage stelle: Gibt es mich überhaupt in diesem Land? Was Demokratie betrifft, hat die Türkei wahrhaftig noch viele Mängel. Seit der genannten „Wahlreform“ sorgt eine landesweite Zehn-Prozent-Hürde dafür, dass die Stimmen für jene Parteien, die an dieser Hürde scheitern, nach der Auszählung weggeschmissen werden. Die einzigen Profiteure dieser Regelung sind die Großparteien, also die traditionellen Hauptkonkurrenten im Kampf um die Regierungsmacht AKP und CHP.

Natürlich aber bin ich mit meiner unbeachteten Stimme nicht allein. Und endlich haben die Menschen, die dieses Wählerschicksal mit mir teilen, einen Aufstand angezettelt: Mit 600 unabhängigen Kandidatinnen, die sich in diesem Jahr der Wahl stellen, verzeichnen wir einen neuen Rekord. Auch die Kurdenpartei DTP, seit Jahren unter der Zehn-Prozent-Marke, ist ebenso wie eine Reihe anderer linker Parteien bei diesen Wahlen durch unabhängige Kandidaten vertreten, in der Hoffnung, auf diesem Weg die Hürde überwinden zu können.

Unabhängige

Einer der interessantesten Figuren unter den Unabhängigen ist übrigens Professor Baskin Oran, der als Spitzenkandidat einer Gruppe von Intellektuellen aus Istanbul zur Parlamentswahl antritt und dessen insbesondere um Wähler/innen armenischer Abstammung bemühte Kampagne von zahlreichen Künstlern, Autoren und Journalisten unterstützt wurde. Die unabhängigen Kkonkurrenten der Großparteien sind jedenfalls entschlossen, Farbe, Geschlecht und Arithmetik des Parlaments zu ändern – so schwierig das angesichts der Tatsache, dass die Hauptachse der Wahlen von 22. Juli von Dualismen wie laizistisch/antilaizistisch, Demokrat/Militarist, EU-Gegner/EU-Befürworter bestimmt wird, auch sein mag. Und obwohl der Name des Wahlsiegers allen Anzeichen nach bereits feststeht: Erdogan. (Ipek Çalişlar, DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.7.2007)