"Ich war in Nürnberg nur am Schreib-tisch. Ich habe nichts getan", pflegte Josef Winklers Onkel Franz, ehemaliges Mitglied der SS, zu sagen. Das Bild stammt aus Winklers persönlichem Fotoalbum.

Foto: Winkler
"Bedenk immer wieder, daß dein Geschichtserlebnis das des Völkermordes an den Juden ist (beim Anblick der Kniekehlen an den spargeldünnen Beinen eines Kindes in Clermont-Ferrand, 7. Aug. 1988, Abend)" (Peter Handke: "Gestern unterwegs")

"Ich höre jene Schreie der Asche unter dieser Furche / und drücke mir den Anzug an die zu lebendige Brust" (Biago Marin)

Als die amerikanischen Befreier in Rom von der Bevölkerung begeistert empfangen wurde, lief ein Mann auf die Kolonne zu, rief "Viva l'America!", rutschte aus und wurde von einem Panzer überrollt. "Einige Juden kamen und begannen das Profil dieses toten Mannes aus dem Staub herauszuschälen (...) langsam, langsam (...), wie man die Ecken eines Teppichs anhebt. Es war ein Teppich aus Menschenhaut und das Muster war ein feines Knochengerüst, ein Spinngewebe aus zerquetschten Knochen. (...) Als der Teppich aus Menschenhaut ganz aus dem Straßenstaub gelöst war, gabelte ihn einer der Juden am Kopfende auf die Spitze einer Schaufel und zog mit dieser Fahne ab. (...) Ich sagte (...): Das ist die Fahne Europas dort, das ist unsere Fahne (...) es steht geschrieben, daß dies die Fahne unseres Vaterlandes ist, unseres wahren Vaterlandes. Eine Fahne aus Menschenhaut. Unser wahres Vaterland ist unsere Haut." (1) Papa, du hast dem jungen Soldaten eine Salve entgegengeschickt, seine Brust mit rotem Lack versiegelt und ihm den Stempel des Vaterlandes aufgedrückt. Mit den Kernen der Apfelbutzen, hast du gesagt, Papa, immer wieder hast du gesagt: Nur mit den Kernen der Apfelbutzen, mein Sohn, während ich von einem Schiff aus Menschenknochen geträumt habe, das Tee und Kaffee geladen hat und von Papst Johannes XXIII. in Schlepptau genommen worden ist, dort, wo sich der Indische Ozean und der Golf von Bengalen kreuzen.

Du musst nicht immer den Herrgott bei den Füßen herunterziehen, hat Mama gesagt. Wer das Brot untereinander schneidet, der schneidet dem Herrgott die Fersen ab, hat Mama gesagt. Ich habe die mit färbigem Streusel bezuckerten Butterbrote, die Mama immer in Zeitungspapier eingewickelt hat, aus meinem Schulranzen genommen, das auf dem Brot klebende Papier mit der Druckerschwärze abgezogen, mit einem Spiegel die verkehrt auf dem Brot klebenden Buchstaben entziffert und von einem toten Kind gelesen, dem schnell, noch bevor es sich umdrehen konnte, zwei weiße Tauben durch die leeren Augen geflogen sind. Wer das Brot untereinander schneidet, der schneidet dem Herrgott die Fersen ab, hat Mama immer gesagt. Jeden Tag einmal hat Mama gesagt, dass ich den Herrgott nicht bei den Füßen herunterziehen und ihm auch nicht die Fersen abschneiden soll. Du schneidest ihm nicht die Fersen ab und ziehst ihn auch nicht herunter! hat Mama gesagt.

Am Weihwasserbecken, habe ich zu Mama gesagt, ist ein totes Küken festgebunden, Köpfchen nach unten, Füßchen nach oben, und das vom Papst geweihte Dorfbrunnenwasser rinnt aus seinem Schnabel, wenn man ihm den Kragen wie einen Wasserhahn umdreht. Weihwasser, dir leb ich! Weihwasser, dir sterb ich! habe ich gesagt, noch bevor Papa, Beeil dich! gerufen hat, du sollst dich beeilen. Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Totenschuhe anziehen, hat Papa gerufen. Immer wieder hat Papa gerufen, dass ich die Totenschuhe anziehen und mich beeilen soll. Aber meine Totenschuhe sind doch mutterseelenallein in den Schnee hinausgelaufen, habe ich zurückgerufen, während ich mit nackten Füßen durch den immer heißer werdenden Schnee gelaufen bin, um meine Totenschuhe einzuholen, die sich auf dem Friedhof hinter einem beschneiten Grabkreuz versteckt, die sich selber zerfleddert und schnell mit ihrem Kalbsleder einen Maulkorb mit einem Sprachrohr geflochten haben für mich, für Mama und Papa. Komm, lauf auf mich zu, komm, habe ich gerufen, du schlägst deinen Schädel an einem Grabstein ein. Und auch das Totenkleid wirst du mit deinem Leben bezahlen.

Seine Feldpostbriefe hat Papa an den drei Ecken mit Skeletten versiegelt. Hoppla, bleiben Sie unter den Lebenden, hat Papa gerufen, wenn er mit den Kernen der Apfelbutzen... Ob Jesus von Nazareth auch einmal mit offenem Mund geschlafen hat, habe ich Mama gefragt, und was hast du an meinen Flügeln mit der Singernähmaschine geändert, habe ich Mama gefragt, als wir im Schneetreiben lange unter den Ästen der Birken den Wolkenbruch abgewartet haben und als Brotlaibe verkleidete Renntiere an uns vorbeigelaufen sind, die nicht nur einen Knicks, auch ein Kreuzzeichen vor uns gemacht haben. Wo sich wohl das verfluchte Weibsbild, das Löschpapier, herumtreibt, das voller Blutklekse ist, habe ich Mama gefragt, bevor mich der löchrige Luftpolster aufgefangen hat, denn ich habe viel zu lange hinter dem hart gewordenen Kitt der klirrenden Fensterscheibe ausgeharrt und auf Papa gewartet, der dann doch - ich sah ihn durch die erblindete Scheibe - mit hocherhobener Monstranz auf dem Rücken eines Pferdes gekommen ist am schneeverwehten Heiligen Abend, drei, vier Stunden vor der Geburt unseres Herrn.

Die Monstranz hat Papa in die Speisekammer hineingetragen und in die Kühltruhe hineingelegt auf die gefrorenen Rippen meines Osterlammes, das mein Fleisch und mein Blut auf seine Auferstehungsfahne geheftet hat. Bald, nachdem ich dem Pferd einen Klaps auf den Oberschenkel gegeben, der Gaul in die Kirche hineingegangen und aus dem Weihwasserbecken getrunken hat, ist der Fremdkörper meines Leibes aus den Fugen geraten wie ein Pferdegerippe im auf- und ab- und wieder auf- und wieder abfahrenden Paternoster, nachdem ich meine Hände gefaltet habe für drei, vier Schrecksekunden vor dem vergoldeten Tabernakel. Mit dem warmen Pferdeatem im Rücken habe ich das Tapetenpapier mit dem Brombeerstrauchmuster im Inneren des Tabernakels abgekratzt und aufgegessen mit den Worten: Berühr mich mit deinem Staub, und ich zerfalle zu einem Menschen. Führe mich in Versuchung und erlöse mich von dir, dem größten aller Übel. Meerstern, ich dich grüße, o Maria hilf. Gottesmutter süße, o Maria hilf, bis mich Papa wieder gerufen, den Gravensteinerapfel mit den braunen Kernen halbiert und mir zuerst die eine und dann auch noch die andere Hälfte gegeben hat mit den Worten: Nur mit den Kernen der Apfelbutzen! Nur mit den Kernen der Apfelbutzen!

DER PAPST IN POLEN

Würden jetzt Juden in Polen leben,
liefen sie wohl auch,
den heiligen Papst zu sehen,
so wie viele polnische Söhne und Töchter
ihm entgegenliefen?
Würden auch jüdische Kinder
dem Papst Blumen entgegentragen -
wie die polnischen Kinder?

Juden hätten in ihren Häuschen gesessen
mit verschlossenen Türen.
Jiddische Mames hätten ihre Kinder
an sich gedrückt,
und mit Schrecken gehört,
wie die Kirchenglocken dröhnen.

Juden leben nicht mehr in Polen,
und jiddische Mames drücken dort
nicht mehr ihre Kinder an sich.
Vielleicht fällt ein Aschestäubchen
eines verbrannten jüdischen Kindes
aus den Krematorien
auf polnischer Erde
jetzt auf die weiße Soutane
des heiligen Papstes?
Vielleicht fiel ein Stäubchen Asche
einer verbrannten jiddischen Mame
aus den Krematorien
auf polnischer Erde
jetzt auf seine weiße Pelerine?
Der Papst hat es nicht gewusst
oder hat es nicht wissen wollen.
In seinen schönen Predigten vor dem Volk
hat er für seine polnischen
Brüder und Schwestern -
Freiheit gefordert,
Frieden,
Brot -
die himmlische heilige Mutter von Tschens-
tochau
hat mit dem Kopf genickt. (2)

>>>Poetikvorlesung

Poetikvorlesung

Angefangen hat alles 1959, als Ingeborg Bachmann die erste "Frankfurter Poetikvorlesung" hielt. Seither ist diese jeweils in der Goethe-Universität Frankfurt stattfindende Vorlesungsreihe ein fester Bestandteil des literarischen Lebens. Wer etwas über das Schreiben, seine Beweg- und Hintergründe sowie Lektüreerfahrungen der jeweils vortragenden Autoren erfahren will, ist mit den anschließend in der edition suhrkamp erscheinenden gesammelten Vorlesungen exzellent beraten.

Gegenwärtig ist es der österreichische Autor Josef Winkler (Jahrgang 1953), der unter dem Titel "Sprache. Ich kann dich nicht besiegen. Meine Waffe bist du" in Frankfurt vorträgt. Winkler legt seine Vorlesung als ironische Selbstbefragung an und spricht über sein Schreiben, das Schreiben in gewohnter und fremder Umgebung und seine Auseinandersetzung mit Sprache und Sprachlosigkeit sowie über das Lesen als Inspirationsquelle. Oben abgedruckter Text, der von Curzio Malapartes Roman "Die Haut" ausgeht, ist Teil einer Vorlesung Winklers. (red, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 21./22.07.2007)