Das Cardiff Castle, erbaut von Familie Bute.

Foto: britainonview.com

Das größte überdachte Rugby-Stadion Europas befindet sich im Bute-Park.

Foto: britainonview.com

Ab in die Kohlenmine.

Foto: britainonview.com

Schon alle Prunkkirchen gesehen? Schon alle Protzpaläste besucht? Schon alle Monstermoscheen bewundert? Wie wäre es einmal mit der Kehrseite der Medaille? Endlich einmal zu sehen, wo das denn alles herkam, wer Reichtum und Glanz ermöglichte? Dorthin zu reisen, wo das Umdenken entstand, das Selbstbewusstsein der Arbeiter und die Gewerkschaften. Wo der Chartismus, der "Ur-Sozialismus", seinen Ursprung nahm, wo die Industrielle Revolution begann – nach Südwales.

Zwar kann man in Wales auch den Protz bestaunen, doch sind die Herrenhäuser der Industriebarone konterkariert durch greifbar gemachte Schicksale der Menschen, die für ihren Kampf um ein einigermaßen würdiges Dasein Freiheit und Leben riskierten.

Wales ist ein ständiger Superlativ. Nicht nur die ersten kämpferischen Minenarbeiter gab es hier, den längsten Ortsnamen der Welt, die erste Eisenbahn und die älteste Dampfmaschine. Wenn man Bill O'Keefe zuhört, dem begeisterten Waliser und Fremdenführer, Spross einer Bergbauernfamilie, der Geschichte studierte und sie bunt und greifbar erzählen kann, gibt es kaum etwas, was in Wales nicht erfunden und gefunden wurde oder geschehen ist.

Der Hafen für Neues

Die Kohle-, Stahl- und Eisenstadt Newport ist ein guter Ausgangspunkt für eine Reise zu den Geburtsstätten des Arbeiterstolzes. Mit dem Zug in etwas über drei Stunden von London, Paddington Station, aus (wo man mit dem Heathrow Express ankommt) ist sie zu erreichen, dort sollte man in einen Mietwagen umsteigen und sich dann durch die Landschaft treiben lassen.

Nach Cardiff zum Beispiel, in die Hauptstadt von Wales, wo einer dieser erwähnten protzenden Kontrapunkte steht: das Cardiff Castle, ein kleines Neuschwanstein, von der omnipräsenten Familie Bute gebaut. Schmäh-Gotik, Kitschmittelalter und viel Symbolismus war eben Mode zur Zeit der Kohlenmillionäre Bute, der im 19. Jh. reichsten Familie Europas.

Der größte Stadtpark Englands (er heißt selbstverständlich Bute-Park) findet sich hier und das größte überdachte Rugby-Stadion Europas (eine walisische Sucht, zu Rugby-Zeiten herrscht in Cardiff Ausnahmezustand). Das Nationalmuseum hier besitzt eine der größten Sammlungen von Impressionisten. In Cardiff wurde auch der erste Scheck über eine Million Pfund ausgestellt (von einem Amerikaner), die erste Dampfeisenbahn fuhr von hier los, das weltweit größte Postlager, wo Matrosen ihre Briefe abholen konnten, stand hier.

Abenteurer und Erfinder tummelten sich in dieser Hafenstadt, wie Piraten, die im 17. und 18. Jahrhundert Schmuggelware löschten: vor allem mit Brandy im Schiffsbauch und mit – Haaren, die massenhaft für Perücken gebraucht wurden. Marconi probte hier erfolgreich seine erste Radioübertragung über Wasser.

Auch Roald Dahl, der geniale Horrorgeschichten-Erzähler und Autor bezaubernder Kinderbücher, aus Norwegen stammend, hat hier gelebt und sich selbst mit einer herübertransportierten weißen norwegischen Holzkirche ein kleines Denkmal gesetzt.

Lebhaftes Minenspiel

Pflicht ist der Trip nach Blaenavon, zu der Geburtsstätte der Industriellen Revolution, inmitten der mit 300 Grabungen durchlöcherten Hügel, heute grün und hübsch, noch vor einigen Jahrzehnten türmten sich hier verrußt-schwarze Kohlenhalden. In der begehbaren Kohlenmine und dem "Big Pit National Mining Museum" (2005 zum besten Museum des Jahres in Großbritannien gewählt) begreift man hautnah, was zur verzweifelten Revolte der Arbeiter europaweit führte.

Die Blaenavon Ironworks ganz in der Nähe, wo das Eisenerz geschmolzen und Stahl erzeugt wurde, lassen mit ihren Ruinen in Riesenausmaßen verstehen, welch starke Männer und Frauen diese Gegend hervorgebracht hat. Bis heute: Anthony Hopkins stammt aus Port Talbot, Kathryn Zeta Jones (Zeta nach dem Namen des Kupferschiffes, auf dem ihr Großvater arbeitete) aus Swansea. Und Richard Burton, dessen Bruder mit Familie noch heute regelmäßig von seiner Ex Liz Taylor besucht wird, kommt aus einem Tal hinter Port Talbot. Sein Freund Dylan Thomas (Bob Dylan nannte sich nach ihm), hat endlich in Swansea ein Museum bekommen, in dem man ihn selbst hören und in einem kleinen Café nett sitzen und schmökern kann, und in dem auch Filme und Theaterstücke gezeigt werden.

Dort steht am Hafen das neue National Waterfront Museum, knackmodern mit vielen interaktiven Stationen, wo die Geschichte von Wales spannend und bunt erzählt wird, wo man ebenfalls nette Cafés findet, in denen junge Musiktalente ihre Karriere zu beginnen versuchen, und wo zeitgenössische Ausstellungen gezeigt werden.

Wirklich außergewöhnlich ist aber die Tatsache, dass über die Wurzeln der Industriellen Revolution heute im positiven Sinn Gras gewachsen ist: Wer Wales erwandert, wird sich dieser Geschichte über den Umweg schöner Landschaft ebenso nähern; oder noch besser über die Kanäle, die seit dem Kohleboom das Land durchziehen und einmal sogar 40 Meter hoch über ein Viadukt führen. Duftende Gärten gilt es ebenso zu beschnüffeln, wie vermeintliche Geisterschlösser zu erschlafen. Und wer dann noch den schnaufenden Alt-Eisenbahnen zuhört, wenn sie die selbe Geschichte aus ganz anderer Perspektive erzählen, darf sich bereits als echter Schmalspur-Historiker fühlen. (Elisabeth Hewson/Der Standard/Printausgabe/21./22.7.2007)