Zehn Dinge braucht der Mensch: "All we need" heißt die Ausstellung in Luxemburg, die sie versammelt.

Foto: Luc Deflorenne
Weniger als die Hälfte der 459.000 Einwohner sind Luxemburger.


Luxemburg - Was in Luxemburg passierte, wäre in Österreich undenkbar, bestellte doch eine konservative Politikerin einen Grün-Politiker, noch dazu Mitbegründer seiner Partei, zum Generalkoordinator der Kulturhauptstadt Europas, die Luxemburg heuer, nach 1995, zum zweiten Mal sein darf. Da er, so die Argumentation, die Kulturpolitik permanent kritisiert hatte, solle er nun beweisen, es besser zu können. Was sich Robert Garcia, ein Überzeugungstäter (siehe auch Interview. "Ich habe mein Pulver verschossen") , nicht zweimal sagen ließ: Er wählte als Thema die Migration und die Folgen. Als Sinnbild beziehungsweise Logo der Kulturhauptstadt fungiert ein cyanblauer Hirsch: Einerseits war die Großregion rund um Luxemburg früher reines "Waldgebiet", andererseits zieht auch der Hirsch immer weiter.

Das Thema Migration ist zwar nicht neu (auch die Kulturhauptstadt Rotterdam widmete sich ihr 2001), aber die Problematik wird kritisch und konsequent aufbereitet. Zudem ist sie allgegenwärtig. Denn im Großherzogtum mit 459.000 Einwohnern leben nur 200.000 Luxemburger.

Am krassesten ist die Situation natürlich im ungemein pittoresken Städtchen Luxemburg samt dem Kirchberg als hoch modernem Satellitenstadtteil für die EU-Behörden und die internationalen Banken: Der Ausländeranteil beträgt 63 Prozent. Zudem gibt es 120.000 Pendler ("Grenzgänger" genannt), was unter der Woche gewaltige Staus und am Sonntag eine fast bedrückende Menschenleere nach sich zieht.

In einem aufgelassenen Stahlwerk in Dudelange beispielsweise werden in der Schau ReTour de Babel (bis 28. Oktober) liebevoll Migranten quer durch die Jahrhunderte mit Schwerpunkt Gegenwart porträtiert: jüdische Flüchtlinge und italienische Saisonarbeiter, Luxemburger Bauern, die nach Argentinien auswanderten, und illegal Beschäftigte. Man stößt etwa auf Victor Hugo, den Iraner Abbas Rafii, der in Luxemburg zum größten europäischen Importeur von Pistazien wurde, und auf die Tochter der Jazz Gitti, Shlomit Butbul, die ins Großherzogtum geheiratet hat.

Nicht ganz aufgegangen hingegen ist das Projekt Trans(ient) City mit Installationen im öffentlichen Raum, die Grenzen überwinden und Kommunikation ermöglichen wollten. Manche sind kaum zu finden, andere, darunter die "Temporary Autonomous Zone" von Didier Fiuza Faustino, werden als Plattform nicht erkannt. Die riesige Basartasche (als Symbol für den Wirtschaftsflüchtling aus dem Süden) beim Rosengarten hingegen funktioniert als Veranstaltungsort für verbindendes Karaoke blendend: Als Gerüst verwendet Xu Tan nicht, wie üblich, Bambusstäbe, sondern, als Tribut an die Region, Stahlträger.

Mit der babylonischen Welt und geografischen Grenzen als Thema in der zeitgenössischen Kunst setzt sich Capricci (possibilités d’autres mondes) im Casino Luxembourg auseinander (bis 2. September). Und im Stadtmuseum ist eine ziemlich umfassende Ausstellung mit dem bewusst provokanten Titel Achtung, Zigeuner! zu sehen. Die "Geschichte eines Missverständnisses" wird aber trotz der aufklärerischen Ansätze nicht umgeschrieben. Achtung, Zigeuner! läuft bis 11. November und wird danach in Sibiu, der zweiten diesjährigen Kulturhauptstadt Europas, gezeigt.

Tomorrow Now

Im Gegensatz zu vielen anderen Kulturhauptstädten hat man auf den Bau neuer Infrastrukturen verzichtet – aus gutem Grund: 2005 wurde die neue Philharmonie eröffnet und 2006 das Mudam, das Museum moderner Kunst, von Ieoh Ming Pei: In der Ausstellung Tomorrow Now über Zukunftsvisionen im 20. Jahrhundert (bis 24. September) sind unter anderem etliche Exponate von Hans Hollein, Haus Rucker Co. und Coop Himmelb(l)au zu sehen.

Dennoch gibt es einen neuen Veranstaltungsort: die Rotunden beim Bahnhof, die einst Lokomotivwerkstätten waren. In der ersten, komplett sanierten, arbeitet Sophie Calle, einer der Stars der diesjährigen Kunstbiennale von Venedig, mit Fotos, Texten und Erinnerungsstücken das schmerzreiche Ende einer Beziehung auf. Frank Gehry hat für "Douleur Exquise" und ganz besonders für den grandiosen Raum eine sinnfällige Installation geschaffen, die den Besucher förmlich ins Zentrum zieht (bis 9. September). Die zweite Rotunde, notdürftig instand gesetzt, dient der Jugendkultur: Die Organisatoren, die unmittelbar daneben ihr temporäres Container-Headquarter aufgeschlagen haben, hoffen, dass dieses Projekt 2007 überdauert.

Und in einer riesigen Gebläsehalle in Belval bei Esch präsentiert Robert Garcia sein Herzstück: die konsum- wie globalisierungskritische, sehr didaktisch angelegte Ausstellung All we need (bis 28. Oktober). Die Installationen zu den zehn Grundbedürfnissen des Menschen samt den Auswüchsen (Organhandel, Ausbeutung, Umweltverschmutzung, leer gefischte Meere, Liebe als Ware) sind, wie auch die Industriearchitektur, die man auf einem Rundgang erwandert, überwältigend. Man stößt beim Thema Muße auf ein riesiges Meer aus Plastikflaschen, beim Thema Überleben auf eine das Dach durchbohrende Rakete. Die Aufforderung zum Schluss, wenn man von ganz oben liegend durch eine Röhre ins Erdgeschoß gerutscht ist, lässt an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig: "Stand up!" (Thomas Trenkler aus Luxemburg/ DER STANDARD, Printausgabe, 24.07.2007)