Alpay: Das türkische Durchschnittseinkommen hat sich in den letzten vier Jahren mehr als verdoppelt und die Lebensbedingungen haben sich verbessert. Das ist der Hauptgrund. Außerdem hat es die AKP in punkto Menschenrechte geschafft viel umzusetzen und die Türkei zu einem freieren Land zu machen. Und das dank der EU-Reformen, welche die Regierung verfolgt hat.
derStandard.at: Erdogan gilt seit Jahren als beliebtester Politiker in der Türkei und das seit Jahren. Viele führen den Wahlsieg der AKP auf seine Person zurück. Ist dieser Personenkult nicht problematisch?
Alpay: Leider spielt in unserer Politik die Persönlichkeit politischer Führer eine große Rolle. Die Türkei befindet sich in einem Übergang von einer traditionellen in eine moderne Gesellschaft und da haben charismatische Führer viel Einfluss auf die Wähler. Ich bin sicher, dass mindestens zehn Prozent der abgegebenen Stimmen für die AKP nur Erdogans Person zu verdanken sind. Bei der CHP(Republikanische Volkspartei) war genau das Gegenteil der Fall. Wäre Baykal vor den Wahlen zurückgetreten, hätte die CHP zehn Prozent mehr.
derStandard.at: Sie selbst waren kurzzeitig (Februar bis Oktober 1993) persönlicher Referent von Deniz Baykal, Chef der stärksten Oppositionspartei der sozialdemokratischen CHP. Heute sprechen sie sich sehr stark für die AKP-Politik aus, warum?
Alpay: Ich habe in den Siebziger Jahren in Schweden gelebt. Das hatte Einfluss auf meine politische Philosophie. Ich bin ein starker Sozialdemokrat nach dem schwedischen Modell. In dieser Zeit war Deniz Baykal sehr rezeptiv für diese Mentalität. Später hat er sich aber geweigert die Partei zu erneuern. Er hat an alten kemalistischen Werte festgehalten. Das hat dazu beigetragen, dass die Partei in der türkischen Politik unbedeutend wurde. Wir hoffen, dass Baykal bald seinen Rücktritt erklärt. Er hat sich seit Sonntagnacht noch nicht gerührt.
derStandard.at: Ist es nicht paradox, dass Sie sich als eingefleischter Sozialdemokrat so stark für eine konservative AKP aussprechen?
Alpay: Ich habe einen unabhängigen Kandidaten gewählt, aber ich sympathisiere mit den AKP-Leuten. Es ist die einzig progressive und wirklich linke Partei in der Türkei, weil sie versucht die Lebensbedingungen zu verbessern. Die CHP ist unter Baykal zu einer statischen und sehr nationalistischen Partei geworden. Deswegen haben sich so viele abgewendet.
derStandard.at: Kann man die CHP mit jenen nationalistischen arabischen Parteien vergleichen, die sich unter dem Banner des Säkularismus als einzigen Schutzwall gegen den Islamismus präsentieren, aber einen autoritären Kurs verfolgen?
Alpay: Ja, sehr sogar. Viele sehen die CHP ähnlich wie die Baath-Partei, die sehr nationalistisch und statisch ist. Aber Baykal hat niemals von einer militärischen Diktatur profitiert. Während der Präsidentschaftskrise, als das Militär interveniert hat, hat er nichts dagegen gesagt. Er hat dem Verfassungsgerichtshof damit gedroht, dass es Ausschreitungen im Land geben wird, wenn er nicht einschreitet.
derStandard.at: Wahlkampfthema der Opposition war es vor allem vor der islamistischen Agenda der AKP zu warnen: nach Geschlechtern getrennte Busse und Strände, Kopftuchgebote, etc. Wie nehmen sie das wahr?
Alpay: In der AKP-Amtszeit ist nichts in diese Richtung passiert. Einige Lokalregierungen haben lediglich den Ausschank von Alkohol verboten. Aber in den USA gibt es etliche Bürgermeister die den Verkauf von Alkohol verbieten. So what? Das heißt nicht, dass die AKP eine islamistische Agenda verfolgt. Wie kann man nur von solchen Verboten darauf schließen, dass die Türkei sich zu einer iranartigen Theokratie verwandeln wird?
derStandard.at: Von westlichen Eliten steht man dem AKP-Sieg teils sehr wohlwollend gegenüber und lobt sie für ihren Reformkurs. Ist es nicht seltsam, dass damit genau jene Wähler vor dem Kopf gestoßen werden, die sich am meisten mit dem westlichen Lebensstil identifizieren bzw. ihn imitieren?
Alpay: Es gibt dieses Paradoxon in der Türkei. Die traditionellen und religiösen Leute sind viel mehr Pro-Europa und Pro-Modernität, als jene, die sich modern kleiden und einen westlichen Lebensstil frönen. Das sind leider keine Demokraten. Sie sind gegen den Willen der Leute, reaktionär und wollen ein starkes Militär.
derStandard.at: Inwieweit kann die AKP in den nächsten fünf Jahren das Militär einschränken?
Alpay: Wir werden langsam einen Rückgang des militärischen und bürokratischen Einfluss in der Türkei wahrnehmen. Wenn die AKP auf ihrem Kurs bleibt werden wir wahrscheinlich eine Normalisierung sehen.
derStandard.at: Nun gibt es zwei Parteien mehr im Parlament. Wie schätzen sie den Einfluss der nationalistischen MHP und der neu formierten kurdischen Fraktion?
Alpay: Ich verabscheue die MHP. Sie ist eine rechte, nationalistische Partei, die während des Wahlkampfs nur Hass zwischen Kurden und Türken gesät hat. Aber ich muss zugeben, dass es auch moderate Elemente in dieser Partei gibt. Es könnte zu Streitereien mit den kurdischen Repräsentanten kommen. Es ist auch sehr gut, dass die Kurden im Parlament repräsentiert sind. Das kann zu einer Verbesserung der prokurdischen Politik in der Türkei führen. Außerdem ist die Hoffnung da, dass sie jegliche Verbindungen zur PKK aufheben.
derStandard.at: Bislang dreht sich die Debatte viel mehr um die Rolle der Türkei in Europa, welche kann sie dann als Big player im Nahen Osten spielen?
Alpay: Die Türkei ist ohnehin ein Big player. Die Türkei ist hinsichtlich ihrer stabilen Demokratie ein Vorbild. Sie hat es geschafft, den Islamismus zu mäßigen und ihn in den demokratischen Prozess zu integrieren. Die Türkei ist der strahlende Stern des Islams auf der Welt. Deswegen wird sie international geschätzt und hat nicht nur im Nahen Osten Einfluss.
derStandard.at: Für wie wahrscheinlich halten sie einen Einmarsch der Türkei im Nordirak?