Nichts sprach jemals dafür, das aus dem begabten Buben ein prägender Theatermacher Nachkriegsdeutschlands würde. Von seinem Vater Cornelius hat Tabori überliefert, dass jener den Todeszug nach Auschwitz mit den liebenswürdigen Worten bestieg: "Nach Ihnen, Herr Mandelbaum!" Es gibt grobkörnige Fotos von Vater Cornelius: der verschmitzte Blick eines Journalisten; auf dem mutmaßlich letzten Bild vor der Deportation trägt er den gelben Stern auf der linken Jackenseite.
Man wird Taboris künstlerischen Kosmos ohne Blick auf den Holocaust nicht betreten können noch ihn verstehen lernen. Der wundersamen Errettung seiner Mutter hat Tabori einige seiner beklemmendsten, dabei herzzereißend komischsten Texte gewidmet. Dem Urheber der Gaskammern schrieb der bereits greise Dichter eine liebende Komödie hinterher: In Mein Kampf tätschelt der jüdische Weise begütigend den Wirrkopf des jungen Hitler, dem als inferioren Männerasylheim-Bewohner Zuwendung ausgerechnet von jüdischer Seite zuteil wird. Man muss es eben versucht haben: Auch hierin hat sich Tabori, der einmal trocken bekannte, die Mörder seines Vaters "nicht hassen zu können", gegen jede Wahrscheinlichkeit verhalten.
Oft war er gerade nicht dort, wo das Unheil über seine nächsten Verwandten und Freunde hereinbrach – jenem Ahasver vergleichbar, dessen Unstetigkeit der Surrealist Guillaume Apollinaire einst in das Bild eines im Zimmer auf dem Platz tretenden Manikers goss. Der 1936 nach London Emigrierte arbeitete als Zeitungskorrespondent in Sofia, Istanbul und Kairo; seine Ermittlungsarbeiten für den Secret Service sollen sich in aufmerksamem Radiohören erschöpft haben.
Charme des Kakaniers
Das Aroma des Gin-trinkenden Geheimnisträgers mit dem bezwingenden Charme des Ex-Kakaniers hat sich in Taboris frühe Kriminalromane hinübergerettet: ins Farcenhafte tendierende Gesellenstücke, die bereits mit dem Witz des ungläubigen Staunens versehen sind.
Denn gestaunt hat Tabori immer. Zugleich hat er die Wechselfälle seines Lebens mit schöner Selbstverständlichkeit hingenommen: als maßlose Bereicherungen. Wir sehen den angehenden Drehbuchschreiber neben Bertolt Brecht und Charles Laughton in Hollywood stehen: die Zigarre in der Hand, einen Emigrantenwitz auf den Lippen.
Der lebenslange Frauenfreund war nicht nur mit Marylin Monroe sehr gut bekannt. Er sagte später über diese Zeit: "Stell dir vor, du lebst in einem Haus, und jeden Sonntag kommen Büchner, Kafka, Flaubert, Mahler und so weiter zu Besuch ..." Als er in New York seine Zelte aufschlug und im Umkreis des Lee-Strasberg-Instituts arbeitete, ging ihm ein unbekannter Jungschauspieler als Assistent zur Hand: Dustin Hoffman.
Die Mitte seines Lebens hat George Tabori im besten Sinne verfehlt: In einem Alter, wo andere bereits ans Aufhören denken, beendete er notdürftig seine Jugend. Wann das Leben tatsächlich beginne? "Nach dem dritten, vierten Tag", sagt der Katholik. "Nein, nach dem dritten, vierten Monat!", entrüstet sich der Protestant. Worauf der Rabbi meint: "Wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Hund tot ist, dann erst beginnt das Leben!"
Taboris später Durchbruch als Theatermacher in Deutschland beruht (auch) auf Zufällen. Wiederum hielt er sich dort auf, wo mit ihm unter keinen Umständen zu rechnen war. Versehen mit dem Rüstzeug angewandter Therapiemethoden, kehrt er mit Ende der 60er-Jahre die Ästhetik des "Selbsterfahrungstrips" um in einen Ritus der probierenden Aneignung von Stoffen und Themen.
Das Gewährenlassen
Taboris Verwandlung in einen "Guru", dessen Güte in ein freundliches Gewährenlassen umschlug, war durchaus von Skandalen gekennzeichnet: Dass in "Die Kannibalen" KZ-Häftlinge sich anschicken, ihren Kompagnon zu verspeisen – dass in "Mutters Courage" die im Güterwaggon zusammengepferchten Juden die erzwungene Nähe zum Austausch von Körpersäften nützen: Dergleichen verstand sich nicht von selbst. Taboris dramatisches Werk, das er über Jahre gerade in Wien mit besonderer Leidenschaft im Kreis und an der Burg entfaltete, handelt vom Skandal der Mitmenschlichkeit. Es appelliert an einen gütigen Gott, den es vernünftigerweise nicht geben kann. Und es handelt von den Tücken unserer Psyche, die unsere Vernunft verlässlich überrumpelt.
George Tabori, der zuletzt am Berliner Ensemble arbeitete, war dem lieben Gott ein Stück weit ähnlich geworden. Dass er nun doch gestorben ist, setzt alle in ein namenloses Erstaunen: Er hätte noch einmal eine Reise an die Schauplätze seines Lebens unternehmen wollen, erzählte er im vergangenen Herbst, als er aus Anlass einer Hommage ihm bekannte Journalisten in das Wiener Volkstheater lud.
Gott Vater selbst
Es ist auch nichts Blasphemisches an dieser völlig logischen Verwechslung George Taboris mit Gott: In seinen letzten Arbeitsjahren saß der unendlich liebenswerte Greis, der bereits schwer hörte und nicht besonders gut sah, in einem Lehnstuhl am Bühnenrand. Dämmerte und ahnte mehr, als dass er sah, dass es gut war. Und es war natürlich immer gut, weil die Schauspieler für "den George" ihr Allerbestes gaben – einfach, weil Taboris hemmungslose Großzügigkeit die köstlichsten Gegengeschenke erforderte.
Mit dem Tod hat dieser dem Verhängnis so oft unverhofft Entronnene seinen Frieden geschlossen gehabt – verdutzt nur von der Vorstellung, dem Leben als Schauspiel irgendwann nicht mehr beiwohnen zu können. Der viermal verheiratet Gewesene ("Das ist für mein Alter nicht besonders viel!") habe seinem Intendanten Claus Peymann zuletzt vorgeschlagen gehabt: "Claus, gehen wir doch wieder zurück nach Wien!"