Ist doch einfach zum Verrücktwerden: Wegen einer unbedeutenden Geheimdienst-Geschichte, die sich in den Westen verirrt hat, so eine Szene zu machen! Ist halt einer an einer Strahlenerkrankung zu Friedenszeiten im Zentrum einer europäischen Hauptstadt verreckt – na und? Und die paar Engländer, die die Strahlung im Vorbeigehen abgekriegt haben, sind daran schließlich nicht gestorben, oder? Soll das etwa ein Anlass sein, wirkliche Geheimnisträger auszuweisen oder unseren eigenen Beamten das Recht zu verweigern, ihr Geld in teuren Londoner Geschäften auszugeben?

Die Engländer ticken offenbar nicht richtig: Man hat ihnen ja schon vor jeder Kenntnisnahme von Papieren über die Auslieferung klar bedeutet: „Wir werden niemanden auch nur irgendwohin ausliefern.“ Verstehen die etwa kein Russisch?

Das Problem ist: Wir und die Welt sind offenbar allzu unterschiedlich gestrickt. Vielleicht bestehen die Engländer aber gerade wegen dieser prinzipiellen Differenz darauf, dass der Tatverdächtige Lugowoi vor ein britisches Gericht soll? Ich sehe es so: Gewiss, niemand hat bislang vor einem öffentlichen Gericht bewiesen, dass Lugowoj der Mörder ist. Aber es hat auch noch niemand das Gegenteil bewiesen.

Natürlich gilt die Unschuldsvermutung gilt für jeden Bürger – bis zum Gerichtsurteil. Wenn es das in London aber nicht geben kann/soll, dann pfeift doch einfach auf die Engländer und führt selbst einen Prozess durch: Bringt Beweise seiner Schuld oder Unschuld bei, Expertisen, Zeugenaussagen. Worin liegt das Problem? Warum macht man die Engländer schlecht – und einen Menschen, der im Verdacht steht, einen Mord gbegangen zu haben, zum Nationalhelden? Wir trauen den Engländern nicht? Okay. Dann beweist mir , dass sie lügen. Aber setzt mir bitte nicht Lugowois Geschwätz als „Beweismittel“ vor.

Die Putin-Ära hat die Reputation der russischen Gerichte zerstört. Die Burschen im Kreml waren offenbar der Auffassung, dass die Basmanny-Rechtssprechung (benannt nach dem Gericht im Moskauer Bezirk Basmanny, wo die Causa Yukos verhandelt wurde, Anm.) für den Hausgebrauch genügt. Doch was man bestellt, das kriegt man auch: Was Wunder also, dass die Engländer der russischen Justiz nicht trauen? Sie sind doch nicht blind und taub. Sie schweigen, aber das bedeutet durchaus nicht, dass sie nichts zu sagen haben und nicht die Prozesse verfolgen und nicht verstehen, wie etwa dank solcher Verfahren die Ölgesellschaft „Rosneft“ aus einer rückständigen und ineffizienten Staatsfirma plötzlich zum Branchenleader im russischen Ölbusiness geworden ist.

Die westliche Business-Gesellschaft hat hinlänglich ihre Bereitsschaft bewiesen, vor allen „Besonderheiten“ des russischen Geschäftsstils die Augen zu verschließen, weil ganz einfach der Markt große Chancen bietet. Aber ich kann Ihnen versichern, selbst dem coolsten Geschäftsmann ist es unangenehm, wenn Polonium im Zentrum von London zerstäubt wird.

Und glauben Sie mir, es gibt mehr einflussreiche Leute in England, die Boris Beresowski (Oligarch und Putin-Gegner; politischer Asylant in England, Anm.) nicht auf ihrem Territorium sehen wollen, als solche, die sich über seine Anwesenheit freuen.

Aber das Gericht hat nun einmal entschieden. Wohlgemerkt, das Gericht, in dem Leute waren, die die Interessen der russischen Staatsanwaltschaft vertraten. Das heißt, Beresowski hat man auf die Anklagebank gesetzt, bevor man beschloss, ihn nicht auszuliefern. Und das alles vor dem Hintergrund, dass ihn niemand des Mordes in irgendeiner raffinierten Form beschuldigte. – Stellen wir uns die Situation doch einmal umgekehrt vor:

Irgendein Engländer X wird verdächtigt, im Zentrum von Moskau irgendeinen ehemaligen Engländer Y, der in Russland Asyl gefunden hat (solche gab es, Spione etwa), mittels radioaktivem Material ermordet und im Vorbeigehen noch 30 Leute verseucht zu haben. Russland führt gründliche Ermittlungen durch, kommt zum Schluss, dass den Mord Herr X verübt hat, stellt in der Folge einen begründeten Auslieferungsantrag, die britische Staatsanwaltschaft aber würde das, ohne den Antrag abzuwarten, ablehnen. Mehr noch: Auf BBC würde man am nächsten Tag ebendiesen Herrn X zeigen, der erzählt, dass die Tat in Wirklichkeit vom russischen Geheimdienst verübt worden ist, weil die Burschen es satt gehabt hätten, diesen unnötigen Herrn Y zu unterhalten, dass alles eine Spionagegeschichte war, das Opfer in irgendein schmutziges Geschäft verwickelt war und sich überhaupt selbst sich mit Strahlung vergiftet habe. Wie hätte Russland wohl darauf reagiert?

Zwei Varianten: Entweder hätte man alles getan, damit die Geschichte nicht öffentlich bekannt wird und wäre danach schon irgendwie mit Herrn X verfahren – ohne sich dabei die Beziehungen mit England zu verderben. Oder man hätte einen solchen Skandal veranstaltet, dass die heutigen „Spazierflüge“ der russischen Jagdbomber im Vergleich dazu wie Kinderkram wirken.

Es gibt auch eine dritte Variante: In Russland verurteilt man im Unterschied zu Großbritannien auch in Abwesenheit des Angeklagten: Etwa Eduard Ulman (der Offizier einer Sondereinsatztruppe, der laut Urteil 2002 sechs Zivilisten in Tschetschenien erschossen hat, wurde in Abwesenheit zu 14 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, Anm.d.Ü.) oder Beresowski...

Wie auch immer: Die Engländer sind offenbar deswegen schuld, weil sie nicht bereit sind, im Namen der hohen Politik und Ökonomie diplomatisch die Geschichte des Mordes zu übergehen, und es bei ihnen nur ein Recht gibt, nämlich das, Beschuldigungen vor Gericht zu verhandeln, und nicht das „Recht“, nach dem die Russen etwa mit Selimchan Jandarbijew (tschetschenischer Separatistenführer, der 2004 angeblich vom russischen Geheimdienst in Katar ermordet wurde, Anm.) abrechneten.

Überhaupt sind sie komische Käuze, die Engländer, haben Sie das noch nicht bemerkt? Ob es vielleicht daran liegt, dass nicht nur Beresowski, sondern auch alle noch so Putin-treue Patrioten Russlands für alle Fälle Häuser in London und Umgebung zugekauft haben?! Ihnen nämlich gefällt in diesem Land gerade das, was Russland fehlt. Die Börse natürlich auch. Aber in erster Linie die funktionierende Justiz.

Können Sie sich einen Prozess über Lugowoi in London vorstellen: jeden Tag hunderte Kameras und Reportagen in die ganze Welt? Und vor diesen Kameras alle Einzelheiten darüber, woher das Polonium-210 gekommen ist, wie man es transportiert hat usw.

So geshen hat Russlandseinen ausländischen Partnern, darunter der G8, das Leben sicher stark erleichtert. Würde es Lugowoj an London ausliefern und dort ein offener Prozess stattfinden, befänden sich die westlichen Herrschaften nämlich in einer ebenso schwierigen Lage wie die Engländer. Nicht reagieren ist unmöglich, reagieren sie aber, werden sie auf der Stelle sagen: „Kalter Krieg“.

Kurzum: Russland hat den Weltfrieden gerettet. Und unsere Flugzeuge sind nur ein bisschen herumgeflogen, damit man nicht vergisst, wem die Welt diese Rettung zu verdanken hat. Im übrigen haben wir noch jede Menge Pipelines – und dann gibt es da noch die KSE, ganz zu schweigen vom Kosovo, dem Iran und anderen gewichtigen Angelegenheiten. Was braucht man sich da um um irgendeinen Toten in London zu scheren? (Übersetzung: Eduard Steiner/DER STANDARD, Printausgabe, 25.7.2007)