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Stanislaw Ossadtschij ist Botschafter der Russischen Föderation in Wien.

Foto: APA/Gindl
Ich bin gezwungen festzustellen, dass die die westlichen Massenmedien überschwemmende antirussische Welle auch die österreichische Presse erfasst hat. Dieses Mal wurde die massive Kritik an Russland dadurch hervorgerufen, dass die Russische Föderation in völliger Übereinstimmung mit ihrer Verfassung die Auslieferung eines ihrer Staatsbürger an Großbritannien im Zusammenhang mit dem Fall Litwinenko verweigerte. In diesem Zusammenhang möchte ich einige Klarstellungen treffen.

Wir teilen die Ansicht, dass jedes Verbrechen sorgfältig untersucht und die Schuldigen einer Bestrafung zugeführt werden müssen. Dabei muss man sich jedoch an die gültigen Gesetze halten, und umso mehr darf man nicht versuchen, kriminelle Taten für die Lösung politischer Aufgaben zu nutzen.

Die Vorwürfe des britischen Außenministers Miliband anlässlich der Weigerung Russlands, seine Verfassung zum Nutzen der britischen Beamten zu ändern, klangen für uns höchst sonderbar. Die britischen Behörden sind darüber erzürnt, dass sich der russische Staatsbürger Andrej Lugowoj in Freiheit befindet und der Presse auch noch Interviews gibt. Dabei wird geflissentlich verschwiegen, dass die britische Justiz ihren russischen Kollegen die Untersuchungsergebnisse über den "Hauptverdächtigen" Lugowoj nicht übermittelt hat. Russland soll sozusagen seine Staatsbürger nach der ersten Aufforderung Londons ausliefern, ohne sich dabei von der Begründetheit der erhobenen Vorwürfe überzeugen zu können. Für uns ist das eine völlige Absurdität.

Großbritannien hat keine andere Lösung gefunden, um Russland von der Gerechtigkeit seiner Forderungen zu "überzeugen", als die Visabestimmungen zu verschärfen und vier russische Diplomaten des Landes zu verweisen. Unser Erstaunen ruft die Tatsache hervor, dass die offiziellen Vertreter Großbritanniens keinerlei objektive Voraussetzungen für solche Schritte hatten. Die russischen Untersuchungsorgane haben im Fall Litwinenko aktiv mit den Briten zusammengearbeitet. Davon zeugt die Tatsache, dass Vertreter von Scotland Yard bereits nach dem ersten Ansuchen nach Russland kamen, während eine analoge Anfrage unserer Staatsanwaltschaft in London drei Monate lang geprüft wurde.

Die jetzige scheinbare Empörung wirkt noch sonderbarer vor dem Hintergrund offensichtlicher Bekundungen einer Politik der "doppelten Standards" durch Großbritannien. In den vergangenen Jahren hat sich Russland mehrmals an Großbritannien mit Ansuchen gewandt, um insgesamt 21 Staatsbürger auszuliefern, die der Durchführung von schweren Verbrechen beschuldigt werden, darunter auch Terroristen. Alle Anschuldigungen wurden durch Beweise belegt, und die Ansuchen waren überzeugend begründet. Darunter befinden sich der weithin bekannte Unternehmer Boris Beresowskij und der Emissär der tschetschenischen Separatisten, Achmed Sakajew. Kein einziger Verbrecher wurde ausgeliefert. Wenn Russland den Weg Londons beschreiten würde, hätte die britische Botschaft in Moskau schon mehr als 80 Diplomaten weniger.

Es muss hier angemerkt werden, dass Russland durchaus nicht das einzige Land ist, dessen Auslieferungsansuchen nicht erfüllt wurden. Zehn Jahre lang weigerten sich die britischen Behörden, den algerischen Terroristen Raschid Ramda, der in Großbritannien den Flüchtlingsstatus bekommen hatte, an Frankreich auszuliefern. 2002 lieferte London den Algerier L. Firaisi nicht aus, den die amerikanischen Behörden beschuldigen, an den Terroranschlägen des 11. September beteiligt gewesen zu sein. Die Italiener bemühen sich bereits drei Jahre lang erfolglos um die Auslieferung durch London von F. H. Faradji, der verdächtigt wird, einer internationalen Verbrecherorganisation anzugehören, welche terroristische Überfälle in Italien geplant hatte. Sie müssen mir zustimmen, dass vor diesem Hintergrund die lauten Anschuldigungen Großbritanniens Russland gegenüber, nicht kooperieren zu wollen, ein wenig falsch klingen.

Die Versuche des neuen Ministers Miliband, seine Handlungen durch die Unterstützung der EU-Länder und der USA zu rechtfertigen, sind nicht stichhaltig, denn viele in Großbritannien verstehen, wie kurzsichtig und absurd die von den Behörden gesetzten Schritte sind, und rufen dazu auf, die Konfrontation zu vermeiden.

Wenn die Hauptaufgabe Londons tatsächlich die Aufklärung des Falls Litwinenko ist, so könnte es den offensichtlichen Weg gehen, welcher in Übereinstimmung mit den europäischen Konventionen von Russland vorgeschlagen und im folgenden mehrmals bestätigt wurde: die Beweise für die Schuld Lugowojs zur Verfügung zu stellen und der Abhaltung des Gerichtsprozesses in Russland zuzustimmen. Die Einhaltung der Objektivität dieses Verfahrens könnten die Briten mit allergrößter Sorgfalt verfolgen. Offenbar wurde ein solches Ziel jedoch nie angestrebt. Vorläufig weist alles auf das Bestreben Londons hin, unsere bilateralen Beziehungen maximal anzuspannen und diesen Konflikt auf die Ebene der EU zu heben, was die anderen EU-Mitglieder in eine höchst unbequeme Lage bringt. Warum das gemacht wird, ist uns unverständlich. Ich bin der Ansicht, dass Probleme zwischen sich gegenseitig achtenden Partnern auf andere Art gelöst werden sollten.

Die gegen Russland gerichtete EU-"Solidarität" mit England in der Geschichte mit Lugowoj, wie auch in anderen fragwürdigen Fällen (schweigsame Nachsicht mit russophoben Stimmungen in Estland, Konflikt um das "polnische Fleisch" usw.), trägt nicht zur Entwicklung normaler Beziehungen zwischen Russland und der EU bei und schadet letztendlich der EU selbst. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.7.2007)