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Am Horn von Afrika kontrollieren Clan-Milizen weite Teile des Landes, die Verwaltung funktioniert nur noch auf lokaler Ebene. Es gibt keine Schulen, Krankenhäuser, niemanden, der den Müll wegräumt: "Somalia ist ein staatenloses Land".

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Mitte 2006 schlossen sich verschiedene islamistische Organisationen zur "Union islamischer Gerichte" zusammen und eroberten Mogadischu und weite Teile des Landes.

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Im Zuge der Kämpfe wurden Hunderttausende vertrieben, so auch diese Familie.

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Somalia könne als das Land in der modernen Welt gelten, das am längsten ohne Zentralstaat existiere – und es sei weiterhin staatenlos, sagt die Politologin und Somalia-Expertin Jutta Bakonyi gegenüber derStandard.at: "Die derzeitige Übergangs-Regierung von Abdullahi Yusuf kontrolliert ja nicht mal die Hauptstadt Mogadischu und hat nur begrenzt Einfluss auf die anderen Regionen Somalias."

Das Land im äußersten Osten Afrikas war 1960 aus dem Zusammenschluss der früheren Kolonien Britisch- und Italienisch-Somaliland entstanden. In den 70er-Jahren hatte sich der Staat langsam etabliert, erklärt die Politologin: "Es wurden Schulen aufgebaut, und breit angelegte Alphabetisierungskampagnen gefördert".

Darunter auch mobile Schulen: Beispielsweise wurden im Programm 'Wandern mit den Nomaden' Studierende verpflichtet, mit den Nomaden mitzuziehen und ihnen Bildung zu vermitteln." Auch wurde Somali als Schriftsprache etabliert und so genannte "Orientation Centers" aufgebaut, in denen der Bevölkerung die sozialistisch Ideologie des Staates vermittelt wurde, erklärt Bakonyi. "Schließlich war das Land sozialistisch und wurde bis in die 80er-Jahre von der Sowjetunion unterstützt."

Der Staat erodierte

Nachdem die Sowjetunion ihren somalischen Bündnispartner aufgab, wurde Somalia von den USA unterstützt. In den 80er-Jahren wurde die Unterstützung jedoch mehr und mehr verringert. Die Konsequenz: Der somalische Staat erodierte zunehmend. "Der staatliche Apparat, in dem viele Arbeit gefunden hatten, konnte nicht mehr finanziert werden. Und wie in vielen anderen afrikanischen Staaten auch, führte das zu Konflikten."

In Somalia wurde dies noch dadurch verstärkt, dass der Diktator, Siad Barre, sehr brutal reagierte: "Es gab kaum Alternativen, als mit Gewalt gegen ihn vorzugehen." Dass sich diese Aufstandsgruppen auf Clan-Basis gebildet hatten, war angesichts der großen Bedeutung der Clans für alle gesellschaftlichen Belange naheliegend, "aber gleichzeitig ein großer Fehler", so Bakonyi. Mit dem Sturz des Diktators 1991 begann ein Machtkampf der verschiedenen Clan-Gruppen.

In Folge seien alle staatlichen Strukturen zusammengebrochen: "Das kann man sich immer schwer vorstellen, aber das heißt: keine Verwaltung, kein Steuersystem, keine Schulen, Krankenhäuser, es gibt niemanden der Straßen repariert, niemanden, der Müll entsorgt: Alle öffentlichen Aufgaben funktionieren nicht mehr oder nur auf privater Ebene", erklärt die Politologin.

Islam füllt das Vakuum

Seit dieser Zeit wurde die Verwaltung ebenso wie der Schutz der Bevölkerung lokal organisiert, teilweise füllte auch der Islam das Vakuum. Dieser sei sehr tief in der somalischen Kultur verankert, doch sei dies eher "ein traditioneller Islam, in dem Scharia und Gewohnheitsrecht vermischt sind," erklärt Bakonyi im derStandard.at-Interview. Die moderaten Islamisten hätten jedoch über ihre Sozialarbeit mittlerweile großen Einfluss gewonnen; auch die Gerichtsbarkeit und das Erziehungssystem liege, vor allem in den Städten, großteils in ihren Händen.

Im Erziehungswesen gebe es zwar Initiativen von UNICEF oder anderen Organisationen zur Ausbildung von Lehrern, "doch das ist minimal", sagt Bakonyi. Aufgrund des extrem niedrigen Bildungsniveaus sei es bereits schwierig, Menschen zu finden, die zu Grundschullehrern ausgebildet werden könnten.

"Und der Islam bildet hier eine Alternative – die haben ihre islamischen Gelehrten." Überall gebe es so genannte Madrasas, in denen Kinder zumindest arabisch schreiben lernen, den Koran auswendig lernen und eine Minimalbildung bekommen. "Hinzu kommen nur noch einige private Schulen, in denen ein bisschen Rechnen und Schreiben gelehrt wird – meistens aber Englisch, denn das verspricht eine Anstellung bei einer internationalen Organisation."

"Eine Grenze ist die Gewalt"

Zwar hätten sich in den 90er-Jahren die Menschen vor Ort relativ gut mit der Situation arrangiert. Doch der Politologin zufolge zeigen sich hier eben auch deutlich die Grenzen derartiger Lokalregierungen: "Eine Grenze ist die Gewalt. Eine lokale Clan-Miliz ist nicht dazu in der Lage, für Sicherheit zu sorgen, schon weil die Kämpfer nicht so wie in einer modernen Armee kontrolliert werden und lokale Gewaltkonflikte jederzeit ausbrechen können."

Eine andere Grenze zeige sich bei der Umwelt, denn die Folgen für diese seien verheerend: "Beispielsweise hat sich während des Krieges Holzkohle als ein neuer Exportschlager entwickelt." Somalia ist klimatisch über weite Regionen eine Halbwüste mit nur wenigen Bäumen – und die wenigen Baumbestände, die es im Norden und Süden gibt, werden nun radikal abgeholzt, abgebrannt und in die arabischen Staaten exportiert.

"Das ist dramatisch, weil es zur Senkung des Grundwasserspiegels führt und dadurch zum Verdörren von Weideland, das wiederum die Nomaden für ihre Tiere brauchen." Die Folgen seien den Menschen auch bewusst, doch sie sehen keine Alternative, ein Einkommen zu erlangen. "Hier wäre ein Staat gefordert, der Einkommensmöglichkeiten schafft und mit Strafandrohung diese Zerstörung aufhält", betont Bakonyi. Andernfalls werde es hier Konflikte geben – "einige Kleinkriege gab es bereits".

Bewaffnete Clan-Milizen

Derartige Konflikte werden dann zumeist zwischen verschiedenen Clan-Gruppen ausgetragen, die jeweils bewaffnete Milizen unterhalten. Insgesamt gebe es in Somalia vier bis sechs Haupt-Clans, je nach Zählweise. Jeder dieser Clans führt seinen Stammbaum auf einen Verwandten des Propheten Mohammed zurück; zerfällt aber dann wieder in Sub-Clans, Sub-Sub-Clans und so weiter, bis hin zur "diya"-Gruppe – "das ist diejenige Gruppe, die im Bedarfsfall das Blutgeld für eines ihrer Mitglieder zahlt", erklärt Bakonyi.

Auch dieses System werde jedoch durch den Islam nun verändert – denn das islamische Recht sei ein Individual-Recht und fordere individuelle Strafen, während das traditionelle Recht eine Gruppe kollektiv bestraft. "Aber es ist immer noch so, dass das traditionelle Recht mehr zählt als das Individual-Recht."

Verändert werde auch die Stellung der Frauen. Diese hätten im regional angewandten Gewohnheitsrecht sehr wenig Rechte: Beispielsweise seien Frauen nicht erbberechtigt und werden politisch ebenso wie rechtlich von Männern – Brüdern, Vätern, Ehemännern – vertreten. Der Islam bietet hier teilweise Verbesserungen: Frauen erhalten zumindest die Hälfte dessen, was männlichen Erben zusteht.

Islam verbietet Zwangsverheiratung und Genitalverstümmelung

Vor allem aber verbiete der Islam Zwangsverheiratung und Genitalverstümmelung an Frauen, "was beides traditionell erlaubt ist", erklärt Bakonyi: "Gegen die Genitalverstümmelung von Frauen gibt es islamische Kampagnen."

Auf der anderen Seite bringe der Islam aber auch Einschränkungen für Frauen mit sich. Beispielsweise liegen in Somalia manche Handelsbereiche in den Händen der Frauen: Der Goldhandel, neuerdings auch der Handel mit der Droge QAT, so die Politologin: "Der Islam tritt nun gegen Drogenhandel auf, aber auch dagegen, dass Frauen öffentlich zu sehr sichtbar sind. Und das ist dann wieder ein Rückschritt. Aber für viele Frauengruppen, die um Emanzipation kämpfen, stellt der Islam eher einen Ausweg dar als ein Problem."

Der Weg hin zu einer nationalen Einheit müsse nun über die Beteiligung der moderaten islamistischen Organisationen führen, fordert sie im Interview. Begleitet werden müsse dies von Entwicklungszusammenarbeit auf Graswurzel-Ebene, "bottom-up, von unten herauf", müssten lokale Verwaltungsstrukturen geschaffen werden. Daran arbeiten verschiedene internationale Organisationen bereits seit Jahren.

Anfangs habe man sich hier auf Nothilfe beschränkt: Nach 1991 kam es zunächst zu einer Hungersnot, woraufhin eine US-Mission den Frieden sichern sollte. Es kam jedoch zu Kämpfen, woraufhin die USA 1993 abzogen; 1995 zogen die letzten ausländischen Kräfte ab. Die internen Kämpfe gingen jedoch weiter, Somaliland im Nordwesten Somalias erklärte 1991 die Unabhängigkeit. Puntland im Osten wollte eine Teilautonomie.

Erst im Jahr 2000 wurde nach Friedensverhandlungen eine Übergangsregierung für Somalia (ohne Somaliland) gebildet, die jedoch aus Sicherheitsgründen ihren Sitz in Baidoa (statt der Hauptstadt Mogadischu) hatte. Mitte des Jahre 2006 eroberte die "Union islamischer Gerichte" - ein Dachverband für moderate und radikale Islam-Organisationen - Mogadischu und weite Landesteile.

Ende Dezember 2006 marschierte Äthiopien ein und setzte die Übergangsregierung wieder ein. Das vorgesehene Kontingent von 8000 Soldaten der Afrikanischen Union lässt aber bisher auf sich warten: Bisher sandte nur Uganda Soldaten, "die anderen afrikanischen Staaten sind anscheinend wenig gewillt, Soldaten zu senden", erklärt die Konfliktforscherin.

Sechs bis neun Millionen

Hunderttausende flohen bisher vor den Kämpfen - die UNO spricht von 400.000 Vertriebenen in den letzten sechs Monaten. Doch diese Zahlen seien nur mit Vorsicht zu genießen, so Bakonyi: In Somalia gab es nie eine zuverlässige Volkszählung, die Gesamtbevölkerung wird offiziell auf sechs bis neun Millionen geschätzt. Sicher ist: Es handelt sich um eine hochmobile Bevölkerung, die Mehrheit lebt nomadisch oder halbnomadisch. "Das macht die Staatenbildung natürlich immer schwierig – Nomaden können, schon aufgrund ihrer Weidegründe, keine Grenzen respektieren, sind schwierig zu besteuern, Volkszählungen sind kompliziert."

Dennoch sei ein Staatsbildungsprozess möglich – was sich auch im Nordwesten Somalias gezeigt habe, der sich als Somaliland 1991 für unabhängig erklärt hat, aber international nicht anerkannt wurde. "Hier haben sich nach Versöhnungsverhandlungen seither wieder staatliche Strukturen etabliert." Doch statt sich um eine Befriedung des Südens zu kümmern werde auch auf der derzeitigen nationalen Versöhnungskonferenz in Mogadischu die Wiedereingliederung dieser Provinz zum Thema gemacht: "Eines der ersten Ziele ist es immer, Somaliland wieder zu integrieren. Meiner Meinung nach sollten sie sich zunächst darum kümmern, den Süden zu befrieden." (Heidi Weinhäupl, derStandard.at 25.7.2007)