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Stand im wiedervereinigten Deutschland als skrupulöser Grübler der Schauspielkunst: Ulrich Mühe.

Foto: APA/dpa/Jörg Carstensen
Walbeck – Seine Bühnenfiguren waren seltsam verrätselte, oft auch nur verlorene Prinzen: Staunende (deutschstämmige) Menschenkinder, in deren grell blauen Augen das Entsetzen stand wie in kleinen, immerzu vom Überlaufen bedrohten Badeseen.

Der aus dem sächsischen Grimma gebürtige Schauspieler Ulrich Mühe, Sohn eines Kürschnermeisters, Absolvent diverser Provinzspielorte der ehemaligen DDR, verkörperte noch nach dem Wendeschock von 1989/90, als der Slogan des "Wir sind ein Volk!" sich in das bedrohlichere "Wir sind das Volk!" verwandelte (und in etwas Zweifelhaftes verkehrte), den mit den Wassern der Hochklassik gewaschenen Grübler – einen begnadeten Handwerker ohne Allüre. Einen scheinbar unanfechtbaren Herrschaftstechniker der Überlebensangst, der so gut den Prinzen Hamlet gab wie den Wohlstandsbürger in den alltagsterroristisch erhitzten Spielfilmen Michael Hanekes (wie Funny Games oder Bennys Video).

Mühe blieb, auch als er in Claus Peymanns Wiener Burgtheater-Ära seine Visitenkarte als Peer Gynt abgab, ein geradezu undurchdringlicher Geheimnisträger. Er geriet 1993 als trocken-nüchterner Übergriffsexperte in David Mamets Oleanna gegenüber seiner dritten Gemahlin und Schauspielkollegin Susanne Lothar unter den Vorwurf des "sexual harassments": Unvergesslich, wie Mühe, der Denker mit dem Schütterhaar, seine kalt aufgestaute Wut gegenüber der Studentin in Fußtritten entlud. Ein Prinz Homburg auf Abwegen. Ein Technokrat der Gefühlsverkümmerung.

Und so freute man sich mit Mühe natürlich über seine gewiss einträglichen Erfolge als TV-Gerichtsmediziner. Fühlte die fast beklommene Begeisterung über den Auslands-Oscar für Das Leben der Anderen, als der Schauspieler die Trophäe 2007 staunend in der Hand wog. Mühe hatte einen Abhörspezialisten des MfS gemimt – mit jener im Detail schattierten Akribie, die diesen Titanen des Understatement stets auszeichnete.

Lebensmensch Müller

Mühe war halt auch nur "anders": Seine prägenden Erfahrungen waren gewiss die dialektischen Abrissunternehmungen Heiner Müllers, als dieser in den 1980er-Jahren der verrotteten DDR seine vielfach in Rätselschrift abgefassten Totenscheine ausstellte. Fast schon vergessen scheint es, dass sich dieser Vollblutschauspieler vor drei Jahren mit einer Neubelebung von Müllers Der Auftrag abquälte – als Regisseur und Produzent, der das Versickern genuin "linker" Energien schmerzlich zur Kenntnis nehmen musste. "Erfolg" erscheint sohin immer auch als Missverständnis. Mühe galt als bienenfleißig – und doch stets als unüberbietbar sensibel. Die bedrückende, weil spektakulär gerichtsanhängige Auseinandersetzung mit seiner (zweiten) Ex-Frau Jenny Gröllmann – auch sie ist mittlerweile an Krebs gestorben – spülte noch einmal die von Misstrauen und Verrat gekennzeichneten Lebenserfahrungen in einer bankrotten sozialistischen Alltagswelt gewaltsam hoch.

Soll man ein solches, gleichwohl exzeptionelles Schauspielerleben guten Gewissens ein "glückliches" nennen? Im Gespräch, ob bei den Salzburger Festspielen oder als Wiener Festwochen-Gast, beklagte Mühe die Verkümmerung des dialektischen Denkens – und geißelte die "Verluderung" des Stadttheatersystems, dessen Zumutungen er sich konsequent entzog. Der Magenkrebs, dem Mühe am Sonntag in aller Stille in der sächsischen Provinz zum Opfer fiel, hatte dem Schauspieler nach seiner triumphalen Rückkehr aus Hollywood eine schwere Operation beschert. In aller Stille hat die Familie von ihm Abschied genommen. Mühe hinterlässt fünf Kinder aus drei Ehen. (Ronald Pohl/ DER STANDARD, Printausgabe, 26.7.2007)