Alle im Ausland, von EU-Kommissionspräsident Barroso über Bayerns künftigem Regierungschef Beckstein bis zum Vatikan und der radikalen Hamas, vom schwedischen Außenminister Carl Bildt bis zur österreichischen Außenministerin Ursula Plassnik begrüßen den Wahlsieg des türkischen Regierungschefs Erdogan und seiner „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP). Es war in der Tat eine außergewöhnliche Wahl, nicht nur wegen des in diesem Ausmaß unerwarteten Triumphs Erdogans.

Die Parlamentswahlen mussten vorgezogen werden, weil die Wahl des von der AKP vorgeschlagenen Abdullah Güls, des bisherigen Außenministers, zum neuen Staatspräsidenten durch die Drohungen des Militärs und den Beschluss des Verfassungsgerichtes verhindert wurde. Beim Wachauer Europa-Forum in Stift Göttweig hatte vor zwei Jahren Außenminister Gül, ein Islamist wie Erdogan, einen ausgesprochen positiven Eindruck hinterlassen. Auch beim Mittagessen im kleinen Kreis betonte Gül damals die Entschlossenheit seiner Regierung, den Weg der Öffnung zur EU unbeirrt fortzusetzen. Sein Auftritt in Göttweig, ebenso wie ein Jahr vorher jene maßvolle Rede Erdogans, die ich bei einer Mittelmeer-Konferenz auf Mallorca gehört hatte, dienten dazu, die Zuhörer zu überzeugen, dass Islam und Demokratie miteinander vereinbar sind.

Auch in der Stunde seines persönlichen Triumphes blieb der fromme Muslim, dessen Ehefrau ebenso wie die von Gül streng verhüllt Kopftuch trägt, maßvoll und versprach auch den Gegnern den Schutz der Pluralität und den Respekt vor der Meinung des anderen. Der Konflikt zwischen der alten kemalistischen Staatselite und der neuen anatolischen „Gegenelite“ – den Barbara Frischmuth so eloquent beschrieb (Standard, 24.7.) und der auch mich bei meinen Besuchen in Istanbul und in Ankara immer wieder in Staunen versetzte – ist freilich keineswegs vorbei. Er tritt in eine neue, vielleicht entscheidende Phase.

Der nächste Test für die Türkei wird die Wahl des neuen Staatsoberhauptes. Es ist fraglich, ob die Regierungspartei die fehlenden Stimmen zur Zweidrittel-mehrheit gewinnen kann, um die Verfassung zu ändern. Viermal stürzte das Militär seit 1960 eine gewählte Regierung. Im Falle eines Verfassungskonfliktes über die Wahlmodalitäten des Staatspräsidenten könnte man eine neuerliche Putschdrohung der Generäle nicht ganz ausschließen.

Vor einem Besorgnis erregenden weltpolitischen Hintergrund wird das türkische Ja zur Modernisierung, zur Öffnung und zur Europäisierung zu Recht als ein bedeutsames Ereignis hervorgehoben. Doch ist es naiv und kontraproduktiv, vor lauter Begeisterung die EU-Regierungen zu einer „raschen“ und „eindeutigen“ Antwort bezüglich des türkischen Beitrittswunsches aufzurufen. In einem Interview mit der FAZ betonte kürzlich EU-Präsident Barroso: „Wir haben uns verpflichtet, mit der Türkei zu verhandeln. Es gibt keine Verpflichtung, die Türkei beitreten zu lassen. Verhandlungen sind eine Sache, der Beitritt ist eine andere. Der Beschluss für einen Beitritt muss einstimmig fallen.“

Niemand kann heute sagen, ob in zehn oder fünfzehn Jahren die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen seitens der Türkei erfüllt werden. In der absehbaren Zukunft wäre eine EU der 27 Mitgliedstaaten, die die groß angelegte Osterweiterung noch verdauen und durch institutionelle Reformen ihre Handlungsfähigkeit gewinnen muss, mit der Aufnahme der Türkei in jeder Hinsicht maßlos überfordert. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 26.7.2007)