"Oh heiliger Precarius Beschützer unser, der Prekären dieser Erde, Gib uns heute bezahlte Mutterschaft. Schütze die Abhängigen der Handelsketten, die Engel der Callcenter, die Zahler der Mehrwertsteuer und die Mitarbeiter, die am seidenen Faden hängen. Gib ihnen bezahlten Urlaub und Pensionen, ein fixes Einkommen und Sozialleistungen und errette sie vor kläglichen Entlassungen. Heiliger Precarius, der du uns vor der Tiefe des sozialen Netzes beschützt, bete für uns, die im Interimszustand Seienden. Bring dem Heiligen Petrus, Jakobus und Paulus und allen Heiligen unser demütiges Flehen nahe. Erinnere dich der Seelen mit befristeten Verträgen, gequält von heidnischen Gottheiten des freien Marktes und der Flexibilität, die unsicher herumlungern ohne Zukunft und ohne Zuhause, ohne Pensionen noch Würde. Erleuchte mit Hoffnung die Arbeiter im Dunkeln. Gib ihnen Freude und Ruhm Jetzt und in Ewigkeit!"

Er zeigt sich in Schnellimbissen und Handelsketten, erscheint den Gläubigen in Pendlerzügen und leeren Mietshäusern. Er prophezeit die Verköstigung der Armen und erschwinglichen Wohnraum für alle. Dass San Precario nicht vom Papst heilig gesprochen wurde, hat ihn nicht daran gehindert, die Herzen der Italiener im Sturm zu erobern. Die zahllosen Stoßgebete zum Märtyrer der Flexibilität finden sich eher im Internet als in Gebetsbüchern: "Oh Heiliger Precarius, schütze die Engel der Callcenter ."

Patron der Delogierten

San Precario ist die Ikone der Precari, der Schutzpatron der Italiener ohne soziale Sicherheit, das Markenzeichen von rund vier Millionen Beschäftigten ohne Festanstellung. Deren Kundgebungen heißen mitunter "Wallfahrten zum Heiligen Precarius". Klar, dass der "Märtyrer des 21. Jahrhunderts" auch über eine offizielle Biografie verfügt: "Nach der Legende gilt er als Schutzpatron der Delogierten, Unterbeschäftigten und Ausgebeuteten. Er wird angerufen gegen Mobbing, Deregulierung und Arbeitsunfälle. Sein Namenstag fällt auf den 29. Februar." Die "Fresken für die Precarius-Kapelle" zeigen eine stillende Maria im Callcenter und die Vertreibung zweier Angestellten aus dem McDonalds-Paradies.

Innerhalb weniger Monate stieg der im Februar 2004 proklamierte Heilige zum Symbol für den Kampf um Existenzsicherheit auf - und zum gesellschaftspolitischen Phänomen. In keinem anderen europäischen Land gelang es den modernen Tagelöhnern, eine vergleichbar bunte Szene zu schaffen wie in Italien. Bücher, Filme, Blogs, Webseiten, Lieder und Theaterstücke begannen, die Welt der Precari zu beleuchten.

"Generazione 1000 Euro", ein unterhaltsamer Reality-Roman, den die beiden Mailänder Antonio Incorvaia und Alessandro Rimassa ins Internet stellten, wurde in wenigen Monaten 30.000-mal heruntergeladen und erschien wenig später auch als Buch. Anschaulich schildert es die täglichen Geldnöte des 27-jährigen Claudio.

Der Experte für Handywerbung muss in der Finanzmetropole Mailand mit einem monatlichen Nettolohn von 1028 Euro überleben und jeden Cent dreimal umdrehen. Dennoch: Er lässt sich die Laune nicht verderben und ist nicht bereit, auf alles Schöne im Leben zu verzichten. Rasch wurde der Roman zum Kultbuch einer ganzen Generation qualifizierter und schlecht bezahlter junger Leute, die angesichts eines immer schwieriger werdenden Arbeitsmarkts nach Möglichkeiten suchen, dem Leben dennoch einen Sinn zu geben und die Hoffnung auf eine akzeptable Zukunft nicht aufgegeben haben.

Längst sind die "milleuristi", die mit 1000 Euro überleben, zur Community geworden. "Wir tauschen Strategien aus, kreative Tricks, um ans Monatsende zu kommen - etwa bei den Eltern zu leben oder im Internet zu telefonieren", so Antonio Incorvaio. Als Dauerpraktikant wohnt der 33-jährige Architekt bei seinem Vater: "Eine Miete könnte ich mir nie leisten".

Im Internet begann auch der Bucherfolg der sardischen Theologin Michela Murgia. In ihrem Blog schilderte die 35-Jährige ihren tristen Acht-Stunden-Tag in einem Callcenter, in dem sie versuchte, Frauen den Kauf eines Haushaltsgeräts aufzuschwatzen. Aus ihrem Buch "Was die Welt wissen muss" wurde bald ein Theaterstück und ein Film. Erfolgreich war auch Stefano Obino mit seinem Film "Das Evangelium nach Precarius", der mit einer Spendensammlung im Internet finanziert und an allen Universitäten vorgeführt wurde. Der originelle Rap "I'm precario" wird gar von der Gewerkschaft CGIL (www.nidil.cgil.it) vertrieben. Dem 35-jährigen Römer Federico Platania ging der San-Precario-Kult entschieden zu weit. In seinem Buch "Buon lavoro" erzählt er "zwölf unbefristete Geschichten" aus dem öden Büroalltag staatlicher Bürokraten. Platania: "Lieber prekär als frustriert. (Gerhard Mumelter, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 01.08.2007)