Am 31. Juli 1957 stirbt die Malerin Helene Funke 88-jährig und verarmt in ihrer Wohnung in der Wiener Papagenostraße 1A. Durch ihr zurückgezogenes Leben blieb sie jedoch unbekannt. Ihre Biografie bleibt über weite Strecken ein Rätsel, ihre Werke und persönlichen Unterlagen sind großteils verschollen, verbrannt, vernichtet - so wie die Künstlerin selbst lange in Vergessenheit geraten war.

Erst vor wenigen Jahren begann sich die Kunstwelt wieder für die vielseitige österreichische Künstlerin zu interessieren: "Helene Funke zählte zu den wichtigsten Wegbereiterinnen der Avantgarde, sie war Zeitzeugin vor Ort bei der Entstehung von Fauvismus, Kubismus und Expressionismus", so die Kunsthistorikerin Elisabeth Nowak-Thaller. "Der ausklingende Jugendstil Klimts, der Japonismus, die Fauves, Schiele, Kokoschka und die Secession in Wien, der später folgende Realismus und die Neue Sachlichkeit, sie alle sollten Helene Funke prägen und vielseitige, künstlerische Schwerpunkte ausbilden."

Foto von Helene Funke mit Selbstauslöser, 1913, Terrassenatelier in der Wiener Papagenogasse

Foto: Privatsammlung Deutschland
Am 3. September 1869 wird Helene Funke als fünftes Kind einer gutbürgerlichen Kaufmannsfamilie im deutschen Chemnitz geboren - im gleichen Jahr wie der Maler Henri Matisse. Ihr Wunsch, Malerin zu werden gestaltete sich als schwierig. Kunstmalerin zu sein galt in der Gesellschaft als unschicklich und inakzeptabel - die Familie sträubte sich dagegen.

Helene Funke im Atelier des Chemnitzer Fotografen W. Höffert

Foto: Privatsammlung Deutschland
1899, im Alter von 30 Jahren, löste sie sich schließlich von ihrer Familie, um in München Kunst zu studieren. Da Frauen erst ab 1920 zum Studium an der Münchner Kunstakademie zugelassen wurden, besuchte sie die Damen-Akademie des Münchner Künstlerinnen-Vereins. Ihre frühen Bilder zeigen vor allem Landschaften, erst inspiriert von den französischen Impressionisten, später von ihrem Münchner Lehrer Friedrich Fehr. Ihr nomadenhaftes Wesen zeigte sich schon zu dieser Zeit: Zwischen 1899 und 1905 wechselte Helene Funke zehn Mal ihren Wohnsitz. Die meiste Zeit verbrachte sie in München, sie reiste aber auch viel umher.

"Weg am Fluss mit großem Baum", 1906/07

Bild: Privatsammlung Willi Hoffinger, Wien
Um sich am von Männern dominierten Kunstmarkt nicht gleich als Frau zu erkennen zu geben, signierte die Malerin ihre Bilder mit "H. Funke". Dennoch musste sie am Beginn ihrer Laufbahn herbe Kritik von männlichen Kunstkritikern einstecken. So sagte etwa der Wiener Kritiker Arthur Roessler über ihr Werk, dass die "von Frauenhand mit der Spachtel maurermäßig derb hingestrichenen Bilder ein Greuel sind." Der Kunstkritiker Seligmann bezeichnete ihre Bilder als "Vangoghiade".

"Blick auf die Bucht von Monte Carlo", um 1910

Bild: Privatsammlung Österreich
1906 übersiedelt Helene Funke nach Frankreich, wo sie bis 1912 leben wird und, wie sie sagte, "selbständig arbeitet", vor allem in Paris, aber auch in der Bretagne und in Südfrankreich. Noch immer reist sie sehr viel. Ihre Motive werden vielfältiger, reichen von den beliebten Landschaften über Stillleben und Genreszenen. 1907 stellt Funke im Pariser "Salon des Indépendants" und im "Salon d'Automne" aus, wo 1905 die skandalträchtige Ausstellung der Fauves stattfand, zu denen unter anderen der gleichaltrige Henri Mattisse zählte.

Helene Funke hat die Neuerungen begierig aufgenommen, sie hielt sich mit Vorliebe im Kreise der Avantgardisten auf. An ihrer ersten Pariser Adresse wohnen neben ihrer Kollegin und Freundin Martha Hofrichter auch die Geschwister Leo und Gertrude Stein. Deren große Avantgarde-Sammlung, besonders die Werke von Picasso, und ihre Kunstzirkel sollten das Schaffen der Künstlerin stark prägen. Zwischen 1909 und 1913 sind ihre Werke Teil vieler Ausstellungen in Deutschland, Paris, Wien.

"Segelboote", 1910, Privatsammlung Österreich

Bild: Privatsammlung Österreich
In Paris widmet sich Helene Funke auch einem für Malerinnen in Deutschland damals noch großen Tabu: der Akt-Zeichnung. 1908 noch mit zaghaften, einfachen Bleistiftzeichnungen einzelner nackter Frauen beginnend, hat die Künstlerin zwei Jahre später schon mehrere Ausstellungen mit Aktthemen. Ihre Figuren sind anfangs unerotisch und unidealisiert - "Funke wandelt ein traditionell ausschließlich von der männlichen Moderne besetztes Thema auf eine Art um, die den voyeuristischen, männlichen Zugriff erschwert", so Funke-Expertin Tamara Loitfellner. In Paris arbeiten zu dieser Zeit auch viele weitere Künstlerinnen intensiv am Thema der weiblichen Nacktheit, besonders jene, die im Zirkel der Fauves arbeiten.

"Traum", 1908-1910

Bild: Leopold Museum, Wien
Vielfach porträtiert Funke in ihren Akten Prostituierte, die sich in Erwartung ihrer Kundschaft völlig teilnahmslos verhalten. Sie erscheinen bei ihr "wie Sinnbilder der Frau um 1900 und deren durch das Patriarchat vorbestimmte Lebensbahn", so Loitfellner. Bürgerliche Konventionen und das traditionelle Rollenbild der Frau werden in ihren Frauenbildern in Frage gestellt - möglicherweise auch als Reaktion auf den für sie selbst vermutlich vorgesehen gewesenen Lebensweg, gegen den sie erfolgreich Widerstand geleistet hatte.
Bild: Privatbesitz, Radstadt
1913 läutet wieder eine Wende in Helene Funkes leben ein: Die Künstlerin zieht als "künstlerische Emigrantin" nach Wien - zu dieser Zeit endet auch ihre fauvistische Phase. Sie entwickelt einen gemäßigt expressiven Stil, der heute fast konservativ erscheint. Warum sie aus der Künstlermetropole Paris weg wollte, in der sie sich auch als Frau frei und erfolgreich entfalten konnte, wo sie gute Kontakte zur Kunstszene der Moderne hatte, ist leider unbekannt, da ein Großteil ihres Nachlasses verschollen ist. "Vielleicht wollte sie sich, da sie bereits Mitte Vierzig war, einen neuen Ruhepol suchen", mutmaßt Elisabeth Nowak-Thaller im Gespräch mit dieStandard.at.

"Stillleben mit Calla", um 1920

Bild: Privatsammlung Wien
In ihren Frauenbildern setzt sich die Künstlerin "bildlich mit der gängigen patriarchalen Festschreibung eines Frauenbildes auseinander, welches das Wesen der Frau durch ihre Sexualfunktion bestimmt sieht und weibliche Eigenständigkeit nicht toleriert", so Loitfellner. Mit Vorliebe malt Funke, inspiriert vom Impressionismus, Frauen im Alltag. Häufig malt sie Frauengruppen, wie hier im Bild "Die Früchte", gemalt 1918/19...
Foto: Die Fotografin, Baden/Bild: Klaus und Friederike Ortner
... oder "Die Träumende" aus dem Jahr 1913.
Bild: Österreichische Galerie Belvedere
Zu den Hauptwerken der Künstlerin zählt das mit 1904 datierte Bild "In der Loge", von dem auch die schwarz-weiße Fotografie einer ersten, früheren Version erhalten ist. Die Bilder zeigen drei junge Frauen, die in verschiedene Richtungen schauen, was das kommunikationslose Nebeneinander der Figuren betont. "Es war die Zeit der Emanzipationsbewegung, in der die Frau sowohl gesellschaftlich als auch beruflich eine gleichwertige Anerkennung neben dem Mann zu erreichen versuchte", so ihr Neffe, der Universitätsprofessor Peter Funke, zum Logenbild.

"Helene Funkes Bruch mit ihrer Familie, die Tatsache, dass ihr als Frau eine Ausbildung an einer Akademie verwehrt war und ihr Engagement in der "Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs" und anderen Zusammenschlüssen von Künstlerinnen in Wien zeigen, dass sie sich dieser Emanzipationsbestrebungen nicht nur bewusst war, sondern sie engagiert unterstützte. Somit lässt sich die erste der beiden Versionen des Linzer Logenbildes noch als spielerische Reaktion auf das Logenbild von Renoir sehen, die zweite dagegen als Ausdruck feministischer Eigenständigkeit."

Bild: Lentos
Stillleben sind ebenfalls ein wesentlicher Teil von Helene Funkes Gesamtwerk, die sie Zeit ihres Lebens gerne malte. Vielfach zeigen die Bilder Objekte in einer Ateliersituation, wie hier im im "Stillleben mit zwei geräucherten Fischen", gemalt 1920...
Bild: Privatsammlung Schächter, Wien
... oder im "Pfirsichstillleben" aus 1918. Hier, wie in vielen anderen ihrer Bilder, zeigt sich ihr ästhetisches Spiel mit den Farben. Ihr Zeitgenosse Hans Ankwicz-Kleehoven schrieb 1928: "Helene Funkes Arbeiten haben ein wahres Feuerwerk abgebrannt, dessen pointillistischer Sprühregen sich in gleicher Weise über figurale Kompositionen, Portraits oder Landschaften zu größeren Formen verdichtet. Man mag diese etwas aufdringliche Technik manieriert nennen, in jedem Fall ist sie persönlich und von größter Lebendigkeit, zwei Eigenschaften, die gerade bei Frauen nicht allzu häufig sind."
Bild: Galerie Belvedere, Wien
1920 kauft der österreichische Staat Funkes heute verschwundenes Hauptwerk "Musik", 1928 erhält Funke den Österreichischen Staatspreis für "Tobias und der Engel". Durch die Inflation verliert die Malerin einen Großteil ihres Vermögens. Nach dem Tod ihrer Eltern in den 1920er-Jahren wendet sie sich endgültig von der Familie ab. Sie ist bis zum Ende ihres Lebens an Auftragsarbeiten angewiesen, von denen sie eher schlecht als recht leben kann. Während des Zweiten Weltkriegs geht sie in die innere Emigration. "Ihr phasenweise zurückgezogenes Leben, ihre 'Unbekanntheit' und ihr in den Kriegsjahren sehr reduziertes Schaffen führten zu dem erstaunlichen Faktum, dass Helene Funke trotz ihres revolutionären Malstiles nicht, wie viele ihrer deutschen und österreichischen Kollegen, als entartete Künstlerin unter Hitler diffamiert wurde", so Nowak-Thaller.

Im Dezember 1944 schreibt Funke in einem Brief an Hermann Hesse, zu dem sie - wie auch zu seiner Frau Ninon - ein freundschaftliches Verhältnis pflegte: "Immer und immer wieder lese ich den 'Steppenwolf' und finde so viel tiefstgewandte Gedanken und Empfindungen darin, dass ich immer wieder Dank sagen muss, dass sie dies Buch geschrieben haben. Ich bin eben selbst ein einsamer 'Steppenwolf'!"

Foto: Privatsammlung Deutschland
In ihren letzten Lebensjahren hört man immer weniger von der Künstlerin. 1946, im Alter von 77 Jahren, erwirbt Helene Funke die österreichische Staatsbürgerschaft. 1955 wird ihr vom Bundespräsidenten der Professorentitel verliehen. Zu ihrem 85. Geburtstag lobt der Kritiker Jörg Lampe ihr Lebenswerk in der "Presse": "Hier wird nicht geflunkert und nicht nach äußerem Effekt gestrebt, sondern im besten Sinne des Wortes aus der Farbe Form gebaut. Streng und hart gegen sich selber und sicher nicht leicht im Umgang mit der Mitwelt, doch großzügig und nobel, eine wirkliche Persönlichkeit und Individualität, so ist Frau Funke eine Künstlerin, die diesen Titel voll für sich in Anspruch nehmen kann."
Foto: Lentos
Es dauert viele Jahre, bis sich der Kunstmarkt wieder für die Werke der österreichischen Künstlerin zu interessieren beginnen sollte. Derzeit widmet das Lentos Kunstmuseum Linz ihr eine große Ausstellung - zu sehen noch bis zum 11. September. Es ist die erste Museumsretrospektive der Malerin mit 125 ausgestellten Werken, die das bisher weitgehend unentdeckte Schaffen Funkes präsentiert. Nur ein geringer Teil ihrer Bilder befindet sich in öffentlichem Besitz und in Museen, der überwiegende Teil ist in Privat- oder Galeriebesitz oder ganz verschollen.
Foto: Lentos
Helene Funke wurde am 6. August 1957 am Wiener Zentralfriedhof, Gruppe 24, Reihe 91, Nummer 5 begraben. "1977 ist das Grab mangels Interesse an der Pflege verfallen", schildert der Verleger und Grafiker Rainer Clauss, der eine ganz besondere Beziehung zur Künstlerin hat: "Ich hatte das Glück, mit Helene-Funke-Bildern aufzuwachsen. Helene Funke war die Freundin meiner Großmutter, beide waren in Chemnitz geboren und aufgewachsen. Mein Vater sprach voller Hochachtung von seiner Tante 'Inel', seine Schwester hatte aus dem Vornamen "Leni" das rückwärts gelesene Anagramm geformt. Später als ich lesen konnte, fand ich unten rechts auf dem Bild 'H. Funke'. Was war das für eine Tante Inel, die H. Funke hieß?"

Da an der Grabstelle am Zentralfriedhof seitdem niemand beerdigt wurde, ist sie erhalten geblieben. "Man könnte das Grab wieder pflegen, was – wie ich finde – der Künstlerin Helene Funke wohl anstünde", sagt Rainer Clauss. Auf seine Bitte an die Kulturabteilung der Stadt Wien soll das Grab nun bald wieder gepflegt und erhalten werden. (isa)

Foto: Rainer Clauss
Publikationen über die Malerin:

Sigrid Bucher
"Die Malerin Helene Funke"
Edition Sonnberg
Wien, 2007
112 S., 15 Euro
ISBN 978-3-9502043-2-2

Ausstellungskatalog des Lentos-Museums
(und Quelle für diese Ansichtssache)

Link:

Lentos Kunstmuseum Linz