Lagoni: "Ich gehe tatsächlich davon aus, dass Russland einen Festlandsockel hat, der sich entlang des Lomonossov-Massivs erstreckt. Allerdings nur etwa 350 Seemeilen von der Basislinie, also von der Küste aus."

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So viel mediale Aufmerksamkeit wie im August 2007 hat der Nordpol schon lange nicht mehr bekommen. Der Grund: Russland hat bei einer "wissenschaftlichen Expedition" in 4000 Metern Tiefe eine Titanfahne in den Meeresboden gerammt, um seine Besitzansprüche geltend zu machen. derStandard.at wollte damals von Rainer Lagoni, Professor am Seerechtsinstitut Hamburg, wissen, wem der Meeresboden eigentlich gehört und wie man sich heutzutage ein Land erobert. Das Gespräch führte Anita Zielina.

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derStandard.at: Russland hat eine Titanfahne am Nordpool versenkt. Warum?

Lagoni: Die Staaten rund um den Nordpol sind dabei, die Außengrenzen ihres Festlandsockels festzulegen. Der Festlandsockel ist die natürliche Fortsetzung des Landes unter dem Meer und dort haben die Staaten das Recht, die natürlichen Ressourcen auszubeuten. Wo das Land endet und der Festlandsockel beginnt, ist allerdings sehr schwer festzulegen. Nach dem Seerechtsübereinkommen ist das dort, wo der Tiefseeboden beginnt, also in etwa 4000 bis 5000 Metern Tiefe.

derStandard.at: Wie müsste Russland vorgehen, völkerrechtlich gesehen?

Lagoni: Russland müsste nach dem Seerechtsübereinkommen seine Festlandsockel festlegen und das dann der Festlandsockelkommission der Vereinten Nationen mitteilen. Da sitzen Experten, Naturwissenschaftler, keine Juristen. Die entscheiden dann, ob die Grenzziehung wissenschaftlich nachvollziehbar ist, dann gilt sie völkerrechtlich endgültig.

derStandard.at: Wie entscheidet sich, wem das Land unter Wasser gehört?

Lagoni: Russland hat schon 2001 einen Vorschlag eingereicht, der sehr weitgehend ist. Das Gebiet wäre riesig. Der Grund ist, das Russland einer alten, aus sozialistischen Vorstellungen kommenden, Idee der Sektoraltheorie anhängt. Danach würden von den Eckpunkten der russischen Grenze gerade Linien zum Nordpol gezogen werden, und alles was hineinfällt, würde unter russischer Hoheit stehen.

Wenn Bergrücken sich über die Landesgrenze hinweg unter Wasser weiterziehen, ist das natürlich immer strittig. Die Russen wollen mit dieser Expedition offenbar nachweisen, dass sich das russische Festland unter dem Nordpol fortsetzt. Das ganze Gebiet wird ja in Zukunft angesichts des Klimawandels interessant, was den Abbau der Bodenschätze angeht.

Man hat mit großem Pomp diese scheinwissenschaftliche Expedition gemacht. Es scheint aber eher darum zu gehen, den russischen Anspruch zu untermauern, indem man diese Flagge versenkt hat.

derStandard.at: Völkerrechtlich wirksam ist das also nicht?

Lagoni: Das ist völkerrechtlich völlig unwirksam. Rechtlich relevant wäre das Ganze nur, wenn die Grenze von der UN-Kommission zur Begründung des Festlandsockels anerkannt wird. Dagegen gibt es allerdings schon Proteste anderer Staaten, die im arktischen Bereich tätig sind. Das ist alles in Schwebe.

derStandard.at: Wie sehen sie das?

Lagoni: Ich gehe tatsächlich davon aus, dass Russland einen Festlandsockel hat, der sich entlang des Lomonossov-Massivs erstreckt. Allerdings nur etwa 350 Seemeilen von der Basislinie, also von der Küste aus.

derStandard.at: Gibt es auf der Welt überhaupt noch Gebiete, die man mit Fahne und Expedition „okkupieren“ könnte?

Lagoni: Ja und nein. Ja insofern, als es ein Gebiet in der Antarktis, also am Südpol, gibt, das noch von keinem Staat beansprucht worden ist. Nein insofern, als sich die Antarktisstaaten 1959 geeinigt haben, dass dieses Gebiet nicht beansprucht werden soll. Es ist also ein extraterriorialer Landstrich, unterliegt keiner staatlichen Hoheitsgewalt. Gelegentlich gibt es so etwas auch, wenn einmal eine vulkanische Insel außerhalb eines Festlandsockels entsteht, die es vorher nicht gab. Aber das sind extreme Ausnahmefälle, im Großen und Ganzen ist die Welt aufgeteilt.

derStandard.at: Die altmodische Vorstellung vom Entdecker, der sein Land mittels Fahne okkupiert müssen wir uns also abschminken?

Lagoni: Das gehört in die Köpfe von Romantikern und hat nichts mit Wissenschaft und Völkerrecht zu tun.

derStandard.at: Können wir damit rechen, dass jetzt auch alle anderen arktischen Staaten fahnenschwingend am Nordpol auftauchen?

Lagoni: Die anderen Staaten könnten das genauso machen, tun es aber bis jetzt nicht. Die russischen Wissenschaftler haben sich für eine Art Machtdemonstration hergeben, die von Rohstoffinteressen angetrieben wird.

derStandard.at: Welche Konsequenzen wird der Streit haben?

Lagoni: In erster Linie wird wohl Druck auf die Festlandsockelkommission ausgeübt, damit diese zu einer Entscheidung findet. Russland hat von Japan über Kamtschatka bis hin zur Beringstraße seine ganz eigenen Ideen zur Außengrenze. Da steckt noch eine ganze Menge völkerrechtliches Konfliktpotenzial dahinter.

derStandard.at: Und wem gehört der Nordpol jetzt tatsächlich?

Lagoni: Am Pol ist das Meer 4000 bis 5000 Meter tief, damit unterliegt er der internationalen Meeresbodenbehörde, die in Jamaika sitzt und den Tiefseeboden verwaltet. Und der ist Allgemeingut, er gehört also niemandem. (Anita Zielina, derStandard.at, 3.8.2007)