Die Aufnahme der Türkei mit ihren derzeit rund 70 Millionen überwiegend muslimischen Einwohnern würde die EU in ihrem Wesen verändern. Das ist das gängige Argument der Gegner eines EU-Beitritts der Türkei.

Faktum ist, dass die Türkei angesichts ihrer demografischen Entwicklung spätestens 2020 bevölkerungsreichster Staat der EU wäre (wiewohl eine Mitgliedschaft zu diesem Zeitpunkt selbst bei günstigster Entwicklung absolut unrealistisch ist). Jedenfalls aber wird die Türkei bei gleichbleibendem Bevölkerungswachstum bereits 2012 Deutschland in der Einwohnerzahl überholt haben.

Wesen der EU verändern

Vergleichbar stark wächst die muslimische Bevölkerung innerhalb der EU – derzeit sind es schätzungsweise 16 Millionen von insgesamt rund 460 Einwohnern in der Union. Und dieser – auch ohne weitere Zuwanderung – stark wachsende Bevölkerungsanteil wird das Wesen der EU von innen heraus verändern, wenn die Integration nicht gelingt.

Alarmierende Anzeichen dafür gibt es genügend. In Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien, um nur drei Beispiele zu nennen, haben sich in Milieus mit scheinbar funktionierender Integration Parallelgesellschaften entwickelt, aus denen extremistische Gruppen Terroristen rekrutieren. In Frankreich haben die Vororte-Unruhen gezeigt, dass die Staatsideologie („Egal welcher Herkunft – wir sind alle Franzosen“) eine gefährliche Illusion ist.

Anstrengungen

Die Gefahr ist inzwischen erkannt worden. In den genannten Ländern gibt es Anstrengungen, die muslimische Bevölkerung verstärkt in den politischen Prozess einzubeziehen und ihre Bildungs- und Aufstiegschancen zu erhöhen.

In Österreich verdeutlicht eine soeben veröffentlichte Studie des Wiener Arbeitsmarktservice (AMS), wie brisant die Situation ist. Zwei Drittel aller arbeitslosen Jugendlichen stammen aus Zuwandererfamilien. Auch in der zweiten Generation kann somit von annähernd gelungener Integration keine Rede sein.

Hinweise auf mangelnden Willen, gutes Deutsch zu lernen, und kulturelle Hürden sind entlarvend. Integration ist eine Bring- und eine Holschuld: eine Bringschuld der Zuwanderer und eine Holschuld des Aufnahmelandes. Von Zuwanderern kann man grundsätzlich annehmen, dass sie das Zielland für attraktiver halten als ihr Heimatland, ob aus materiellen oder anderen Gründen. Wenn sie die Spielregeln ihrer neuen Umgebung dennoch nicht akzeptieren, geschweige denn verinnerlichen können oder wollen, hat das Aufnahmeland versagt: bei der Wertevermittlung, im Bildungsangebot, bei der Chancengleichheit.

Doppelt fatal

Für Länder wie Österreich, deren angestammte Bevölkerung schrumpft, und die daher auf Zuwanderung angewiesen sind, ist das doppelt fatal: ein wachsender Bevölkerungsanteil ist schlecht ausgebildet und daher im verschärften Wettbewerb chancenlos – mit entsprechenden Folgen für die Volkswirtschaft insgesamt; zugleich entsteht hier, speziell im islamisch geprägten Milieu, eine Art Proletariat, das extremistischen Botschaften zugänglich ist. Dass Österreich vom islamistischen Terrorismus bisher verschont geblieben ist, kann angesichts der Versäumnisse bei der Integration keineswegs beruhigen.

Das gilt auch für die EU als Ganzes und ihr Verhalten gegenüber der Türkei. Das Gerede von der Aufnahmefähigkeit geht an der Realität vorbei, wenn es sich auf Institutionen, Strukturen und politische Entscheidungsprozesse beschränkt. Die Aufnahmefähigkeit nach außen hängt ganz eng mit der Integrationsfähigkeit im Innern zusammen. Gelungene Integration bedeutet bis zu einem gewissen Grad Identifizierung mit der Lebenswelt des Aufnahmelandes. Die aber kann es nur bei annähernder Chancengleichheit geben.

Enorme Signalwirkung

Wenn die überwiegende Mehrheit der in der EU lebenden Muslime zu einer solchen Einstellung gelangt, vor allem aufgrund echter Gleichberechtigung, dann wird das enorme Signalwirkung für die weitere Entwicklung in der Türkei haben – und darüber hinaus in der gesamten islamischen Welt. Die Frage der Aufnahmefähigkeit der EU wird sich dann so nicht mehr stellen.

Überhaupt nicht mehr stellen wird sie sich aber, wenn die EU es nicht schafft, die gesellschaftliche Zeitbombe in ihrem Innern zu entschärfen. (Von Josef Kirchengast, DER STANDARD, Printausgabe 4./5.8.2007)