Können Sie sich noch an die so genannten "Volksdemokratien" hinter dem Eisernen Vorhang erinnern? Mit diesem sich selbst verdoppelnden Terminus (Demokratie allein heißt ja schon Volksherrschaft) brachten die Herrscher in den Ländern des real existierenden Sozialismus unfreiwillig entlarvend zum Ausdruck, dass man in der modernen Demokratie von zwei „Völkern“ auszugehen hat: dem einen (der politischen Klasse), das im Namen des anderen über dieses herrscht. Demokratie als Identität von Herrschern und Beherrschten ist, jedenfalls für Massengesellschaften, eine Utopie.

Im Ostblock kamen echt demokratische Sachentscheidungen, also freie Volksabstimmungen etwa über Gesetze, sowieso nicht infrage, schon die Wahlen ins Parlament waren dort eine Farce. Aber selbst in den anerkannt demokratischen Ländern, zu denen jetzt auch die meisten Staaten des untergegangenen Sowjetimperiums zählen, ist (wenn man von der Schweiz absieht) die direkte Demokratie auf wenige Ausnahmefälle beschränkt. Die moderne Demokratie ist eine repräsentative – und damit auch eine fiktive: Das, was sich Volksherrschaft nennt, ist in Wahrheit eine Vertreterherrschaft. Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Es kommt darauf an, welche Beziehung die Repräsentierten zu ihren Repräsentanten haben. Wenn sich mehrere Leute für einen bestimmten Zweck von jemandem – z. B. einem Rechtsanwalt – vertreten lassen wollen, dann suchen sie, die Auftraggeber (Mandanten), eine geeignete Person als Auftragnehmer (Mandatar) und statten ihn mit einer Vollmacht aus. So funktioniert das grundsätzlich auch in der Politik: Politische Parteien verhandeln miteinander mithilfe bevollmächtigter Funktionäre, die sich an den Auftrag der Gremien, die sie entsandten, zu halten haben. Für das Verhältnis des Volkes zu seinen Volksvertretern gelten andere Maßstäbe. Für ihre Wahl gibt es zwei Alternativen: die persönliche Wahl der Abgeordneten; oder die Wahl von Parteien, die ihrerseits bestimmen, wer für sie im Parlament sitzen wird. Es liegt auf der Hand, dass die Persönlichkeitswahl für eine engere Verbundenheit der Gewählten mit den Wählern sorgt als die Parteienwahl. Prominenteste Beispiele für die direkte Abgeordnetenwahl sind die ältesten und bisher stabilsten Demokratien der Welt: England und die USA.

In Österreich hatte das Volk nie Gelegenheit, sich direkt für eines der beiden Systeme zu entscheiden. Schon die ersten Wahlen der Republik zur Konstituierenden Nationalversammlung 1919 waren Parteienwahlen. In der neuen, _republikanischen Verfassung, die die Nationalversammlung 1920 beschloss, wurde das Parteienwahlrecht („Verhältniswahl“) festgeschrieben. Diese Verfassung sieht zwar für grundlegende Änderungen ihrer Prinzipien eine Volksabstimmung vor, wurde selbst aber nie einer Volksabstimmung unterzogen. Eine Inkonsequenz, die die demokratische Legitimation dieser Verfassung nach ihren eigenen Kriterien infrage stellt.

Einmal Cap, immer Cap

Nach dem Wahlrecht der österreichischen Bundesverfassung hat der österreichische Wähler auf die Auswahl der Kandidaten für den Nationalrat keinen Einfluss. Es ist ausschließlich Sache der wahlwerbenden Parteien, welche Personen sie auf ihre Listen setzen. Und nur diese Listen, nicht die Personen, können gewählt werden.

Daran ändert die Einrichtung der Vorzugsstimmen, mit der die Reihung der Kandidaten beeinflusst werden kann, nur wenig. Der heutige SP-Klubobmann Josef Cap etwa kam ursprünglich als mutiger Kritiker des sozialistischen Establishments dank solcher Vorzugsstimmen unzufriedener SP-Wähler ins Parlament, obwohl er auf der Liste an aussichtsloser Stelle gereiht war. Doch kaum war er drinnen, wusste er, was er zu tun hatte, um seine langfristige Parteikarriere abzusichern. Seine Wähler und der Grund, warum sie ihn gewählt hatten, waren schnell vergessen. Heute braucht er sich um seinen Listenplatz keine Sorgen mehr zu machen. Die Wähler haben keine Möglichkeit, Josef Cap abzuwählen, solange ihn die Partei hält. Das mag politisch unbefriedigend sein, von unserer Verfassung ist es ausdrücklich so gewollt: Der in den Nationalrat gewählte Mandatar ist weder an einen Wählerauftrag noch an das, was er den Wählern versprach, gebunden.

Frei ist der deshalb keineswegs: Denn missachtet er Aufträge seiner Partei („Klubzwang“) oder jener Organisation, der er seinen Platz auf der Kandidatenliste verdankt, so muss er damit rechnen, als „wilder“ Abgeordneter nie mehr auf die Liste gesetzt zu werden. Für einen Berufspolitiker ein schwerer Schlag. Er kann nach herrschender Rechtsansicht auch nicht die Liste der wahlwerbenden Partei wechseln. Zwar ist nicht zu verhindern, dass er den Rest der Legislaturperiode bei vollen Bezügen aussitzt, von der parlamentarischen Arbeit ist er aber praktisch ausgeschlossen.

Der fiktive Charakter der Proporzdemokratie in Verbindung mit dem Fehlen jeglicher Verpflichtung gegenüber dem Wähler wird an der letzten Nationalratswahl und dem, was dann zur gegenwärtigen Koalitionsregierung führte, besonders deutlich erkennbar. Weil keine der Parteien auch nur in die Nähe einer absoluten Mehrheit kam, sich die FPÖ unter Strache nach den Erfahrungen von 2002 aus strategischen Gründen einer Regierungskoalition verweigerte, und für Neuwahlen der Mut fehlte, blieb als Ausweg nur die Koalition von SPÖ und ÖVP. Diese Koalition konnte, wie alle ihre Vorgänger, schon deswegen nicht dem Wählerwillen entsprechen, weil diesem die Option, sich für eine Koalition von Parteien zu entscheiden, gar nicht zur Verfügung steht. Damit eine große Koalition nicht nur arithmetisch erzwungen, sondern auch demokratisch legitimiert ist, müsste sie als wahlwerbende Partei antreten.

Betrogener Wähler

Das Paradox, dass ein Wahlergebnis erzwingen kann, was keiner der Wähler bei der Wahl gewollt hat, ist das stärkste Argument gegen die Proporzdemokratie und ihr Verhältniswahlrecht. Dem wird immer wieder entgegengehalten, dass nur das Verhältniswahlrecht gerecht sei, weil nur dieses garantiere, dass die Zusammensetzung des Parlaments die verschiedenen politischen Richtungen ihrem gesellschaftlichen Gewicht entsprechend widerspiegle. Worin der Nutzen eines solchen Spiegelbildes bestehen soll, bleibt allerdings dahingestellt. Der Handlungsfähigkeit des Parlaments dient es nicht.

Das Persönlichkeitswahlrecht stärkt die Stimme des Wählers gegenüber dem Gewählten, macht regierungsfähige Mehrheiten für große Parteien wahrscheinlicher und vermindert damit das Risiko handlungsunfähiger Koalitionen einander blockierender „Partner“. Kleine Parteien haben es andererseits schwerer, weil Abgeordneter nur werden kann, wer in seinem Wahlkreis mehr Stimmen als seine Konkurrenten erhält. Aber der Preis lohnt sich: Frankreich hat das Persönlichkeitswahlrecht eingeführt und fährt gut damit. Bei den letzten Wahlen verloren eine Reihe prominenter Politiker, unter ihnen der glatte Alain Juppé, ihr Mandat, nicht weil sie in ihrer Partei in einem Machtkampf unterlagen, sondern weil sie das Vertrauen ihrer Wähler verspielt hatten. Im Persönlichkeitswahlrecht gibt es keinen sicheren Listenplatz. Man stelle sich das für Österreich vor: kein sicherer Listenplatz – was allein das verändern könnte! (DER STANDARD, Print, 8.8.2007)