Welcher Beobachter unserer innenpolitischen Szenerie würde sich nicht gelegentlich wünschen, die verbreiteten strukturellen Blockaden und Verfilzungen mit einer einfachen Reform zu zerschlagen und in einem Aufwaschen auch gleich dem schrillen Populismus den Boden zu entziehen? Die Anhänger der Mehrheitswahl glauben, den Schlüssel zu kennen: Diese würde zu einem Zweiparteiensystem und einer klaren parlamentarischen Mehrheit der stärksten Partei führen, die ohne Verwässerung durch einen Koalitionspartner ihr Programm umsetzen könnte. Die Wähler hätten dann klare Entscheidungsgrundlagen, nämlich die Wahlprogramme der Großparteien und die Leistungsbilanz der jeweils regierenden Partei.

Typisch österreichisch an der gegenwärtigen Diskussion ist, dass sogleich beschwichtigend hinzugefügt wird, dass Kleinparteien durch eine Art Minderheitenschutz (etwa in Form eines "minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts") mit an Bord gebracht werden sollten.

Dabei bauen Mehrheitssysteme gerade darauf auf, kleinere Parteien entweder zu Wahlabsprachen mit einer Großpartei zu zwingen (Beispiel Frankreich, in diesem Fall haben die Wähler die Auswahlmöglichkeit zwischen Parteiblöcken) oder zu marginalisieren. Denn die Ergebnisse der Wahlarithmetik sind den Wählern ja bekannt, weshalb diese vernünftigerweise allenfalls als zweitbeste Lösung eine der beiden Großparteien wählen sollten, um nicht ihre Stimme an eine chancenlose Kleinpartei zu verschwenden. Die Großparteien wiederum müssten die bisher von den Kleinparteien repräsentierten Interessen abzudecken versuchen, um mehrheitsfähig zu sein.

Diese Argumente werden seit den 1960er Jahren unverändert wiederholt. Sie basieren auf der für Demokratiereformer im deutschsprachigen Raum sehr attraktiven Außenwahrnehmung Großbritanniens der 1930er (als faschistische Strömungen auch durch das Wahlsystem klein gehalten wurden) bis 1960er Jahre (der Phase des Konsenses zwischen den britischen Parteien vor Manifestwerden der "British disease"). Ignoriert werden die seither gemachten Erfahrungen, welche die Übertragung des britischen Modells auf Österreich eher nicht nahe legen.

Zweifelhaftes Modell

Die angelsächsische Mehrheitswahl ist die einfachste Form der Mandatszuweisung: In (ungefähr gleich großen) Wahlkreisen wird ein Abgeordneter mit relativer Mehrheit gewählt.

Die Einfachheit (und die Tatsache, dass sie in einigen der ältesten Demokratien zu finden ist) ist kein Zufall, da sie in einer Zeit ohne moderne Kommunikationsmittel und vor dem Entstehen moderner Parteien entwickelt wurde. Das Modell stellte ursprünglich auf persönliche Repräsentation des Wahlkreises ab, und diese starke Personalisierung ist auch sein einziger unbestrittener Vorzug. Hingegen ist das heutige Hauptargument, dass es zu klaren parlamentarischen Mehrheiten führen würde, eher ein zufälliger Nebeneffekt (der sein politisches Überleben in Zeiten der parteienstaatlichen Demokratie ermöglicht hat). Bereits seit den 1970er Jahren ist die Integrationswirkung des britischen Modells deutlich schlechter als sein Ruf unter ausländischen Demokratiereformern - sichtbar daran, dass zuletzt die drittstärkste Partei (die Liberaldemokraten) entgegen jeder Logik des Wahlsystems 22 Prozent der Stimmen (wenngleich aufgrund mangelnder regionaler Hochburgen nur 10 Prozent der Mandate) erreichte. Labour erzielte hingegen mit nur 35,2 Prozent der Stimmen und 3 Prozent Vorsprung auf die zweitplazierten Tories 55 Prozent der Mandate. Es ist auch kein Zufall, dass die Wahlbeteiligung bei Unterhauswahlen (zuletzt knapp über 61%) deutlich unter vergleichbaren Staaten mit Verhältniswahlrecht liegt. Bei Lokalwahlen existiert das - ohnehin nur scheinbare - nationale "Zweiparteiensystem" nicht mehr. Die Verdrossenheit mit unserer gegenwärtigen großen Koalition in Ehren, aber im UK ist die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung keineswegs geringer als bei uns.

Fragwürdige Hoffnung

Oft wird behauptet, das britische Modell würde Parteien belohnen, die sich mit moderaten Programmen um die Wähler der Mitte bemühen. Fast eineinhalb Jahrzehnte war allerdings just das Gegenteil der Fall: Die Konservativen unter Thatcher konnten ab 1979 eine (auch innerparteilich umstrittene) radikal neoliberale Politik umsetzen, während sich Labour bis in die späten 1980er Jahre links außen positionierte - insofern unterstützt vom Wahlsystem, da dieses den Aufstieg der moderateren Mitte-links-Kräfte (das Bündnis aus Liberalen und von Labour abgespaltenen Sozialdemokraten) verhinderte.

Sozialdemokraten unter den Wahlreformern sollte interessieren, dass Mehrheitswahlsysteme im Allgemeinen zu sozial selektiveren Politiken als Verhältniswahlsysteme führen. In der Mehrheit der Wahlkreise steht die Mehrheit nämlich von vornherein fest, weshalb sich Wahlkampfanstrengungen und inhaltliche Angebote auf Wahlkreise fokussieren, in denen die Mehrheit offen ist - wobei typischerweise nicht Interessen marginalisierter Gruppen zum Zuge kommen.

Österreich ist nicht das Vereinigte Königreich, in dem das Parlament als der eigentliche Souverän gilt und zumindest verfassungsrechtlich kaum Reformblockaden existieren. Dass eine (bei uns blockierte) Reform des Gesundheits- oder Bildungssystems in Großbritannien besser gelungen wäre, widerspricht trotzdem der empirischen Erfahrung. In Österreich wäre auch weiterhin für viele grundlegende Reformen eine Verfassungsmehrheit (falls Länderkompetenzen betroffen sind auch im anders beschickten Bundesrat) erforderlich. Die Verfechter der Mehrheitswahl haben sicher recht, dass über dieses Modell diskutiert werden kann - das sollte aber anhand tatsächlicher Erfahrungen und konkreter Folgenabschätzung für eine mögliche Übertragung auf Österreich, nicht nur aufgrund von Hoffnungen und modelltheoretischen Erwartungen geschehen. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.8.2007)