Frau M. wurde in Sulaymaniya, im irakischen Kurdistan, geboren und lebte seit 1992 in Köln. Als Konventionsflüchtling bekam sie und ihre Familie die deutsche Staatsbürgerschaft, sie besuchte das Gymnasium und bestand 1999 ihr Abitur mit Note 1,9. Darauf folgten drei Monate Krankenpflegepraktikum und drei Jahre Krankenpflegetätigkeit mit 20 Wochenstundendienst im Lehrkrankenhaus der Universitätsklinik Köln. Ab Sommer 2000 studierte sie an der Kölner Uni Medizin und hatte bis zum Wintersemester 2002/2003 alle vorgeschriebenen Lehrveranstaltungen mit vielen Prüfungsnachweisen erfolgreich absolviert.

Durch die Eheschließung mit einem österreichischen Staatsbürger und im Zuge der Übersiedlung nach Wien traten dann Schwierigkeiten auf, weil sich die Medizinische Universität Wien weigerte, Frau M. ihre Vorstudienzeit im EU-Land Deutschland anzuerkennen (obwohl dies in vergleichbaren Fällen immer wieder geschieht).

Ich habe ihr in dieser Situation eine Mitarbeit in meiner Praxis angeboten - und mich davon überzeugt, dass Frau M. durch ihr großes Interesse für die Medizin, durch ihre wache Intelligenz, ihren Fleiß und durch ihren fürsorglichen und verständnisvollen Umgang mit den Patienten erstklassig für den Arztberuf geeignet ist. Bei den "zuständigen Stellen" aber sah man das anders: Als Frau M. auf Anraten der Medizinischen Universität Wien 2006 und 2007 am EMS in Wien teilnimmt, erhält sie beide Male nicht die erforderliche Punktezahl - und folglich auch keinen Studienplatz.

Was lernen wird daraus?

1. Das EMS-Punktesystem führt dazu, dass auch zum Medizinstudium durchaus Befähigte von der Berufsausbildung ausgeschlossen werden.

2. Die offenkundige Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern und von inländischen Studienplatzbewerbern gegenüber Schweizern und Deutschen durch das EMS-Verfahren wirft grundsätzliche Fragen - auch rechtlicher Natur - auf, die nach wie vor nicht gelöst sind. Und die Tatsache, dass die "Verlegenheit" der Medizinischen Universitäten in der Handhabung ihrer Selektionsmethoden nun schon mehr als ein Jahr andauert, kann wohl nicht gerade als Zeichen von Intelligenz oder gar schöpferische Fantasie gewertet werden.

3. Tatsächlich sind Frauen für den Arztberuf besser geeignet. Dies hat auch unsere Qualitätsstudie in der Allgemeinmedizin durch Patientenbefragung in österreichischen Arztpraxen bereits 1999 ergeben. Statistisch relevante "Defizite" in den Kategorien der räumlichen Orientierung und des mathematischen Denkens werden offenbar mehr als aufgewogen durch bessere Leistung in der mindestens ebenso relevanten Kategorie "Reflexivität". Rechenfehler sind auch nicht wirklich die typischen Fehlerquellen in der medizinischen Praxis, Kommunikationsfehler dagegen haben manchmal fatale Folgen. Deswegen ist Kommunikation in Spital und Praxis auch seit einigen Jahren ein ganz wichtiges Thema im neuen österreichischen Medizin-Curriculum.

4. Die Evidenz nationaler Unterschiede in den Testergebnissen des EMS weist auf tief greifende Differenzen in den Denkweisen hin, die nicht bloß anekdotischen Stellenwert haben: Denken und sprechen Deutsche mehr Klartext, so beziehen Österreicher/innen viel mehr Kontext in ihre Überlegungen ein. Das verlängert nicht einfach nur die Antwortzeit, sondern erhöht durchaus die Denkleistung - als Ausdruck intellektueller und emotionaler Intelligenz - in Bereichen, die vom EMS einfach nicht erfasst werden können. Für mich ist es daher kein Wunder, dass Sigmund Freud und viele ärztliche Psychotherapeuten ihre Praxen in Wien hatten und eben nicht in Berlin, Köln oder Frankfurt. Die Liebe zu Theater, Literatur und Musik ist in der österreichischen Ärzteschaft sehr lebendig und trägt zweifellos zur hohen Qualität der Medizin in Österreich bei.

5. Die psychologische Kategorie der "Angstunterdrückung" spielt natürlich bei allen Tests auch eine große Rolle. Wer zu viel Stress hat, schüchtern ist, verliert. Auch in diesem Zusammenhang sind Schweizer und Deutsche also gewissermaßen bevorzugt, weil sie etwas cooler ans Werk gehen.

Alternative

Die einzige sinnvolle Möglichkeit, die Eignung einer Person für den Arztberuf wirklich herauszufinden, wäre meiner Ansicht nach die Verpflichtung zu persönlicher Patientenbetreuung in Krankenhaus, Pflegeheim oder Arztpraxis von zumindest sechs Monaten Dauer mit Selbst- und Fremdbeurteilung vor dem Studienbeginn.

Genauso habe auch ich mich vor meinem Studium - freiwillig - vergewissert, dass der Arztberuf der richtige für mich ist. Und ich würde mir wünschen, dass positive Erfahrungen wie diese den EMS-fixierten Entscheidungsträgern zu denken geben. - Nicht nur im Interesse von Frau M. (Hans-Joachim Fuchs, DER STANDARD, Printausgabe, 13.8.2007)