Die Innovationskraft von Apple besteht nicht darin, komplett neue Produktkategorien zu erfinden. Dieses Risiko überlässt man in Cupertino gerne anderen Firmen. Um sich dann anzuschauen, was funktioniert, was nicht, und um schließlich ein eigenes Angebot auf den Markt zu bringen. Mobile Abspielgeräte für digitale Musik gab es vor dem iPod auch schon. Smartphones existierten bereits, als das iPhone vorgestellt wurde. Bei beiden half Apple allerdings tatkräftig mit, sie zu Produkten für die Massen zu machen.

So ein Moment könnte nun wieder bevorstehen. Am 5. Juni wird Konzernchef Tim Cook zum Start der hauseigenen Entwicklerkonferenz WWDC wohl Apples erstes Mixed-Reality-Headset vorstellen, also eine Brille, die sowohl die reale Welt mit digitalen Inhalten überlagern (Augmented Reality), als auch komplett in eine virtuelle Umgebung entführen kann (Virtual Reality). Beides ist nicht neu. Nach jahrzehntelanger Absenz gelangte VR 2012 durch das junge Unternehmen Oculus wieder auf die Agenda. Und mit AR-Inhalten experimentiert Apple schon lange am iPhone.

Dennoch ist alles andere als klar, ob der zum Techriesen gewachsene Konzern erneut aus dem Stand eine bestehende Produktkategorie neu definieren kann. Für Cook, der federführend hinter dem Vorstoß steht, geht es um sein Erbe, das er hinterlässt, wenn er eines Tages sein Büro räumt. Es machen sich Nervosität und Zweifel breit, berichtet Bloomberg.

Vorboten

Man hat nicht wenige Kosten gescheut, um die Brille zu verwirklichen. Man hat Milliarden investiert und rund 1.000 Mitarbeiter damit befasst. Doch allein Apples Preisvorstellungen könnten einen unmittelbaren Erfolg schwierig machen. 3.000 Dollar soll das wahrscheinlich "Apple Reality" getaufte Gerät kosten, für das man ein eigenes Betriebssystem, xrOS, entwickelt hat. Damit übertrifft man nicht nur praktisch jede erhältliche XR-Brille für Konsumenten, sondern auch viele Lösungen, die im B2B-Markt angeboten werden.

Auch von außen wird die Entwicklung neugierig beobachtet. Bei Magic Leap, einem einst gefeierten Start-up, das letztlich seine Vision einer Hightech-AR-Brille nur eingeschränkt realisieren konnte, freut man sich über Apples Einstieg. Dieser, hofft man, könnte den Markt aus der Nische in Richtung Mainstream führen. Andere große Player tun sich nach wie vor schwer. Microsofts Hololens war mit großen Hoffnungen entwickelt worden, endete aber als reines B2B-Produkt. Zudem  gibt es Turbulenzen mit einem Großauftrag für die US Army.

Für Tim Cook geht es bei dem Start der Brille auch um sein künftiges Vermächtnis als Apple-Chef.
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Meta hatte 2014 Oculus übernommen und will unter dem Begriff "Metaverse" eine neue Ära des Internets einleiten. Bislang vermochte man aber keinen nachhaltigen Hype dafür zu erzeugen. Mit den auch unabhängig von einem PC nutzbaren Brillen Quest und Quest 2 erzielte man zwar Achtungserfolge, dennoch ist der Bereich nach wie vor ein Geldgrab für den Konzern.

Bei Apple wollte man zuerst eine leichte, schlanke AR-Brille entwickeln, plaudert ein Mitarbeiter anonym aus. Die Entwicklung ging aufgrund technologischer Hürden aber letztlich immer mehr in Richtung Geräten, wie man sie schon kennt. Ähnlich wie bei Meta hofft man darauf, dass die Brille eines Tages so weit ist, dass Nutzer sie praktisch ständig tragen und damit Mails verschicken, an Videochats teilnehmen, im Netz surfen, Spiele spielen oder sich durch Workouts führen lassen werden. Dabei unterstützen sollen Hand- und Augen-Tracking sowie ein Bündel an vorinstallierten Apps.

Zurückgedrehte Erwartungen

Im Unternehmen rechnet man nicht mit einem sofortigen Hit, aber hofft, dass sie in ein paar Jahren dank geringerem Preis und neuen Features da steht, wo die Apple Watch oder iPads heute sind. Ursprünglich hoffte man, im ersten Jahr drei Millionen Geräte verkaufen zu können, mittlerweile wurde die interne Vorhersage auf 900.000 revidiert. Man spielt hier also in einer ganz anderen Liga als das iPhone, das pro Jahr über 200 Millionen Absätze verzeichnet. Das hat allerdings auch damit zu tun, das man sich letztlich entschieden hat, das Headset zumindest kostenneutral zu verkaufen, statt Verluste in Kauf zu nehmen.

Die Entwicklung, die 2015 begonnen haben soll, verlief auch nicht frei von Komplikationen. Die Verwendung der Brille als eine Art externen Monitor eines Macs funktioniert demnach noch nicht so gut wie gedacht und auch bei Videochats mit mehreren Teilnehmern soll es noch Probleme geben. Und um Gewicht und Abwärme zu reduzieren, hat man darauf verzichtet, den Akku zu integrieren. Stattdessen wird er vom Nutzer am Körper getragen und ist mit einem Kabel verbunden.

Auch mit dem Blick auf andere gescheiterte Produkte in dem Bereich warnt Michael Gartenberg, der einst im Marketing von Apple tätig war, dass "Apple Reality" einer der größten Techflops aller Zeiten werden könnte. Er sieht keinen ausreichend großen Markt für solche Produkte und vermutet, dass bei Apple intern großer Druck herrscht, wieder ein "nächstes großes Ding" zu schaffen.

Projektleiter, kein Produktchef

Wenngleich Cook an dem Projekt viel liegt, sei er in die Entwicklung selbst kaum involviert gewesen. Das entspricht aber auch seinem Führungsstil. Cook ist mehr Projektleiter, denn Produktchef und unterscheidet sich damit stark von seinem Vorgänger Steve Jobs. Die Apple Watch und Airpods wurden auch so zu erfolgreichen Produkten. Doch bei der Brille soll sein fehlendes, direktes Engagement wie Unentschlossenheit gewirkt haben, was letztlich zu Verzögerungen und Sorgen um die Ressourcensituation geführt haben soll. Dass er die "Chefsache" nicht mehr als eine solche behandelt habe, habe zu Frustrationen geführt, sagt eine Person, die mitgearbeitet hat.

Auch andere Größen aus dem Konzern sollen Abstand gehalten haben, etwa Craig Federighi, der die Betreuung von macOS und iOS verantwortet. Auch Johny Srouji, der hinter der Entwicklung von Apples eigenen Chips steht, habe sich im Privaten als Skeptiker geoutet. Intern habe er davor gewarnt, dass der Fokus auf Hardware für die XR-Brille Ressourcen von den iPhone-Chips abziehen könnte, die dem  Konzern mehr Geld bringen. Sein Team setzte aber schließlich auch die Chips für das Headset um.

Schon zum Start der Entwicklung gab es Streit über die Ausrichtung der Brille zwischen Mike Rockwell, damals Chief Technology Officer, und Design-Ikone Jony Ive. Rockwell wollte eine klassische Brille mit mehr Leistung, die an eine Basisstation im Formfaktor eines Mac Mini angebunden ist und Highend-Grafik bieten könne. Ive hingegen sprach sich für ein möglichst portables Stand-Alone-Gerät aus. Seine Vorstellung setzte sich letztlich in Apples Management durch.

2017 war man optimistisch, bereits 2020 ein marktreifes Produkt zu haben, doch technische Herausforderungen und später die Pandemie warfen die Pläne zurück. Lange hatte man gehofft, eine sehr schlanke Brille umsetzen zu können, musste aber letztlich Kompromisse eingehen, um die Entwicklung nicht noch länger zu verzögern.

Sinnsuche

Somit bleibt für Apple eine wichtige Frage übrig: Wer wird die Brille haben wollen? Was das iPhone und iPad bieten, lässt sich klar darstellen, doch das Headset könnte hier in einer Situation landen, wie einst die Apple Watch zu ihrem Start, ehe man beschloss, sich auf Gesundheit und Sport zu fokussieren. Und ähnlich wie die Apple Watch könnte auch die Brille von Drittherstellern gerettet werden, wenn Apples eigenes Arsenal an Anwendungen nicht ausreicht. Das weiß man auch in Cupertino. Das Unternehmen soll schon seit geraumer Zeit in Gesprächen mit App- und Games-Herstellern sein.

An Tim Cook wird es nun liegen, einen ersten Eindruck der Brille zu verkaufen, der sitzt. Seine Präsentation in wenigen Wochen könnte darüber entscheiden, ob Apple Reality zumindest als technischer Erfolg mit klarer Vision begrüßt wird oder auch Apple daran scheitert, den Markt aus der Nische zu führen. (gpi, 19.5.2023)